Berlin

Was würde der Fall der Stadt Pokrowsk für die Ukraine bedeuten? | ABC-Z


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Stand: 07.11.2025 11:53 Uhr

Die Kämpfe um die ukrainische Stadt Pokrowsk haben sich weiter verschärft. Experten zufolge würde ihr Fall zwar kein Ende der Verteidigung der Donbass-Region bedeuten – aber einen schweren moralischen Rückschlag für die Ukraine.

Eine Analyse von Susanne Petersohn und Katja Lutska, ARD-Studio Kiew

Pokrowsk liegt im westlichen Teil der Oblast Donezk und gilt als das “westliche Tor zum Donbass”. Vor dem Krieg lebten hier rund 70.000 Menschen, die Mehrheit russischsprachig. Die Industriestadt war geprägt von Kohlebergbau, Baustoffproduktion und Maschinenbau – und wurde auch kulturell bekannt: Das Weihnachtslied “Carol of the Bells” stammt aus Pokrowsk.

Seit zwei Jahren steht die Stadt unter permanentem Beschuss – durch Artillerie, Drohnen und Gleitbomben. Nun könnte sie die erste größere Stadt seit Awdijiwka sein, die Russland einnimmt. Bereits in diesem Sommer hatten russische Sabotage- und Aufklärungseinheiten Teile des Stadtgebiets erreicht.

“Eine gewaltige Übermacht” russischer Truppen

Nach Angaben des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj sind im Raum Pokrowsk etwa 170.000 russische Soldaten konzentriert, “eine gewaltige Übermacht”. Etwa 200 Infanteristen seien bereits in die Stadt vorgedrungen. Westliche Schätzungen gehen von etwa 20 Regimentern und Brigaden mit bis zu 40.000 Soldaten aus, während auf ukrainischer Seite etwa 12.000 Verteidiger eingesetzt sind.

Das Institute for the Study of War (ISW) berichtet, dass Russland in der Richtung Pokrowsk erhebliche Verluste erleidet. Nach Angaben des ukrainischen Sicherheitsdienstes SBU seien allein im Oktober mehr als 1.500 russische Soldaten getötet sowie 20 Panzer, 62 Schützenpanzer und mehr als 500 Fahrzeuge zerstört worden.

Geolokalisierte Aufnahmen belegen russische Vorstöße in Rodynske, Sukhestke und im südlichen Pokrowsk. Zudem beobachtet das ISW Täuschungstaktiken russischer Truppen: Kämpfer sollen in Zivilkleidung operieren, um ukrainische Linien zu unterwandern – ein Vorgehen, das als Kriegsverbrechen (Perfidie) gilt. Russische Infiltrationseinheiten versuchen offenbar, durch “Grauzonen” zwischen Häuserblöcken und Bunkern vorzurücken. Nach ISW-Angaben setzt Russland derzeit selten gepanzerte Fahrzeuge ein. Stattdessen operieren Infanteriegruppen in kleinen Verbänden, um ukrainische Stellungen zu infiltrieren. Diese Taktik habe sich seit dem Sommer intensiviert und verursache auf beiden Seiten hohe Verluste.

Karte der Ukraine und Russlands, hell schraffiert: von Russland besetzte Gebiete

Militärexperte: Verlust hätte moralischen Effekt

Der ukrainische Militärexperte Mykola Beleskow erklärt im ARD-Gespräch, ein möglicher Verlust Pokrowsks würde die operative Lage der Ukraine “deutlich erschweren”. Russland nutze die Stadt sowohl als militärisches Ziel als auch als politisches Druckmittel. “Nimmt Russland Pokrowsk vollständig ein, behält es die Initiative – nicht wegen einer strategischen Wende, sondern als Symbol. Ein sichtbarer Erfolg, der innenpolitisch in Moskau und international in Verhandlungen ausgeschlachtet werden kann”, so der Experte.

Beleskow betont, Pokrowsk liege an einer entscheidenden Nachschublinie zwischen Myrnohrad und den westlichen Frontabschnitten. Ein russischer Durchbruch gefährde die Verbindung zu Kramatorsk und Slowjansk, den letzten großen ukrainischen Verteidigungszentren im Donbass. “Fällt Pokrowsk, gibt es im Norden oder Westen keine großen Städte, hinter denen sich die ukrainische Armee schnell neu formieren könnte. Das wäre kein Ende der Verteidigung, aber ein kritischer Moment”, schätzt Belesow. Zugleich mahnt er:

Es ist ein Krieg der Abnutzung, kein Bewegungskrieg. Selbst bei einem Rückzug aus Pokrowsk würde die Front nicht zusammenbrechen. Gefährlich wäre vor allem der moralische Effekt – in der Ukraine und international.

Russland könne einen solchen Erfolg propagandistisch ausschlachten und als Hebel in möglichen Friedensverhandlungen oder Gesprächen mit den USA nutzen.

Früherer Vize-Verteidigungsminister warnt vor militärischem Desaster

Der ehemalige stellvertretende Verteidigungsminister und Gründer der Hilfsorganisation “Come Back Alive”, Vitalij Deyneha, sieht die Lage ebenfalls kritisch, aus taktischer Sicht sogar dramatisch. “Wenn in nächster Zeit niemand den Befehl zum Abzug der Truppen aus Pokrowsk und Myrnohrad unterzeichnet, könnten wir nicht nur eine große Zahl hochmotivierter Fallschirmjäger und Marinesoldaten verlieren.” Hinzu könnten aus Deynehas Sicht Vermögenswerte in Höhe von Hunderten Millionen Euro kommen. Also Waffen, Technik und persönliche Gegenstände der Brigade – quasi das gesamte Eigentum der Brigade.

“Wir könnten in eine Situation geraten, in der niemand mehr die Lücke in der Front schließen kann und die im Hinterland errichteten Befestigungsanlagen schnell in die Hände des Feindes fallen”, warnt Deyneha. Ein Festhalten an unhaltbaren Positionen könne den gesamten Frontabschnitt westlich von Pokrowsk destabilisieren und der ukrainischen Armee die Chance nehmen, eine neue Verteidigungslinie zu errichten. Trotz der schwierigen Lage betont Kiew, dass der Kampf weitergehe. Armeechef Oleksandr Syrskyj spricht von einem “komplexen Einsatz”, an dem auch Spezialkräfte und Geheimdiensteinheiten beteiligt seien, um russische Truppen in der Stadt zu zerschlagen.

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