Ukraine: Wie Selenskyj seine Macht in den Kommunen ausweitet | ABC-Z

Die Regierung von Präsident Selenskyj beschränkt zunehmend die lokale Selbstverwaltung. In 200 Kommunen wurde schon eine Militärverwaltung eingesetzt – und in den übrigen Gemeinden steigt offenbar der Druck auf Politiker.
Mit jedem Jahr des russischen Angriffskrieg werden die Kommunen der Ukraine weniger unabhängig. Denn die Zentralregierung von Präsident Wolodymyr Selenskyj beansprucht zunehmend mehr Macht für sich.
Die Dezentralisierung der Ukraine seit 2014 gilt eigentlich als eine gelungene Reform, auch wenn der Prozess noch nicht beendet ist. Besonders während der Amtszeit des damaligen Premiers Wolodymyr Hrojsman von 2016 bis 2019 nahm der Reformprozess Fahrt auf.
Heute haben die Kommunen viel mehr Macht als vor Beginn dieser Reformen. Das gilt vor allem für die großen Städte, die seitdem einen erheblichen Teil der Steuereinnahmen erhalten. Doch auch andere Kommunen erhielten dadurch deutlich mehr Geld.
Vorteil während des Kriegs
Als Russland die Ukraine im Februar 2022 überfiel, war das ein entscheidender Vorteil. Die Dezentralisierung habe der Ukraine sehr geholfen, sagt auch Jurij Hanuschtschak, der viele Jahre als Experte im Ministerium für regionale Entwicklung und als Abgeordneter an den Reformen mitgearbeitet hat. “Wer hat damals, in dieser ersten Phase des Kriegs, die ukrainische Armee unterstützt und mit dem Nötigsten ausgestattet? Wer hat die Ordnung aufrecht erhalten, als im Land komplettes Chaos herrschte? Das waren die Kommunen. Die Kommunen haben sich koordiniert. Und die Entscheidungen, die sie getroffen haben, kamen genau im richtigen Moment.”
Heute allerdings sind viele ukrainische Kommunen nicht mehr selbstständig. Präsident Selenskyj hat in mehr als 200 Kommunen eine Militärverwaltung eingesetzt, knapp die Hälfte davon liegt in dem noch nicht von Russland besetzten Gebiet. Dazu zählen etwa die Großstadt Tschernihiw im Norden oder die Hauptstadt Kiew. Vor kurzem ist noch Odessa am Schwarzen Meer hinzugekommen.
Kritiker meinen, das sei oft nicht notwendig. Der Geschäftsführer des Städtebunds, Oleksandr Sloboschan, sagt, wo es eine funktionierende kommunale Selbstverwaltung gibt, solle sie auch während des Kriegszustands weiterarbeiten. “Sie ist näher an den Bürgern. Es gibt Beispiele aus Kommunen, die von der russischen Besatzung befreit wurden. In den Kommunen, wo es eine Selbstverwaltung gibt, läuft der Wiederaufbau schneller. Der Kontakt zwischen Entscheidern und Bürgern ist enger, die Bürger sind zufriedener.”
Worum geht es?
Dem Präsidenten gehe es sehr oft nicht um die militärische Sicherheit, meint auch Experte Hanuschtschak: “Das Hauptmotiv für die Einführung einer Militärverwaltung ist das Geld. Es geht um den Zugriff auf die Mittel im Haushalt.” Zugriff auf den Haushalt bedeutet: entscheiden, wofür die Kommune Geld ausgibt – und an wen Aufträge vergeben werden.
“Laut Gesetz ist es so: Das Landesparlament muss darüber entscheiden, ob eine Militärverwaltung auch die Verfügungsgewalt über den Haushalt einer Stadt bekommt”, so Hanuschtschak. Im Fall von Tschernihiw zum Beispiel habe das Parlament dagegen gestimmt. “Trotzdem hat die Militärverwaltung genug Macht, um letztendlich doch über den Haushalt zu bestimmen.” Schließlich unterstünden das Militär und die Strafverfolgungsbehörden dem Präsidenten.
Dies geschieht etwa durch Ermittlungsverfahren gegen Kommunalpolitiker. In Tschernihiw verlor deshalb der Bürgermeister sein Amt. Fast zwei Jahre später legte das Mitglied des Stadtrats sein Amt nieder, das für ihn vorübergehend die Geschäfte übernommen hatte. Die Militärverwaltung habe ihm gedroht, die Stadt im Chaos versinken zu lassen, wenn er bleibe, so seine Erklärung. Nun beruft die Militärverwaltung die Sitzungen des Stadtrats ein, der Leiter der Militärverwaltung bestimmt über den Haushalt.
Klitschko: “Stinkt nach Autoritarismus”
Der schärfste Kritiker an diesem Vorgehen ist der Kiewer Bürgermeister Vitali Klitschko. Im Land stinke es nach Autoritarismus, sagte er im Mai. Gegenbeispiele aus anderen Städten bestätigten das nur, meint Experte Hanuschtschak. Etwa in der Großstadt Poltawa im Nordosten des Landes.
Auch dort verlor der Bürgermeister 2023 sein Amt. Eine Militärverwaltung gebe es dort nur deshalb nicht, weil die Sekretärin des Stadtrats, die automatisch an seine Stelle tritt, der Präsidentenpartei “Diener des Volkes” angehöre und Selenskyj gegenüber loyal sei.
Aber auch in den Kommunen ohne Militärverwaltung steige ständig der Druck auf Lokalpolitiker, so Sloboschan vom Städtebund. So plant die Regierung, dass die Gemeinden künftig einen geringeren Anteil an der Einkommensteuer erhalten sollen. “Wenn eine Gemeinde weniger Geld hat, aber die Pflichten die gleichen bleiben, dann erhöht das den Druck auf die Lokalpolitiker. Für sie wird es schwerer, ihre Pflichten zu erfüllen”, so Sloboschan. Und so könne man sie leichter zur Verantwortung ziehen. “Dagegen kämpfen wir.”






















