“Nix Orff – wir wollen Rock!”: Über eine ganz besondere Musiktherapie – Ebersberg | ABC-Z

Schorsch Pirchmoser platzt fast vor Stolz. Nur noch eine halbe Stunde, dann wird er mit seinen Freunden vom Roten Motorrad auf einer großen Bühne in Ebersberg stehen. „Ich spiele drei Instrumente“, erzählt der 70-Jährige: „Mundharmonika, Tamburin und Gitarre! Dahinten, die schwarze, das ist meine.“ Tatsächlich wird der Steinhöringer die Gitarre während des Konzerts nur einmal in die Hand nehmen: Beim Song „Marmor, Stein und Eisen bricht“ spielt er immer ein Solo, bereits seit mehr als 30 Jahren. „Doch das klingt wirklich jedes Mal ganz anders“, kündigt Bandleader Franz Wallner lachend an.
Man könnte auch sagen: Pirchmosers Soli sind unnachahmlich. Denn das Rote Motorrad ist eine inklusive Band, das heißt, hier spielen Musikerinnen und Musiker mit und ohne Beeinträchtigungen zusammen. Gegründet wurde die Truppe bereits vor 37 Jahren unter dem Dach des Betreuungszentrums Steinhöring (BZ). Wirklich jeder und jede darf hier glänzen – mit den jeweils ganz eigenen Fähigkeiten und Besonderheiten. Für den 31-jährigen Robin Kießling zum Beispiel ist das Allerwichtigste seine Kopfbedeckung: ein Zylinder wie der seines Idols, des Weltstars Slash. „Und seine Gitarre hab ich auch!“
Ihren Anfang nahm die Band einst in der Musiktherapie – mit einer kleinen Revolte, wie Sozialpädagoge Franz Wallner erzählt. „Nix Orff – wir wollen Rock!“ So fasst er das damalige Geschehen lachend zusammen. Und weil zahlreiche Musiker lokaler Rockbands dem Betreuungszentrum auf vielfältige Weise verbunden waren, „Stichwort: Zivildienst“, stieß dieser ungewöhnliche Wunsch der Bewohnerinnen und Bewohner auf offene Ohren. Auch Wallner selbst hat lange Tanzmusik gemacht. Also wurden die Klangstäbe eilig weggeräumt – und anstatt dessen die Gitarren gestimmt.
Seitdem ist die inklusive Band weit über den Landkreis Ebersberg hinaus als musikalischer Botschafter unterwegs. Das Rote Motorrad steht „für Party, Toleranz, Mut, Völkerverständigung und die Begeisterung über die eigenen Fähigkeiten“. Gespielt werden Pop- und Rocksongs, mal auf Bairisch, mal auf Hochdeutsch oder Englisch. Und weil viele der Bandmitglieder nicht nur Instrumente beherrschen, sondern auch gerne singen, ist die Mehrstimmigkeit ein absolutes Markenzeichen.

Freilich hat sich die Besetzung über die Jahrzehnte immer mal wieder verändert, doch neben Wallner sind noch heute drei Gründungsväter dabei: eben Schorsch Pirchmoser, außerdem Bassist Alfred Mertins und Reinhard Bartha. „Der ist aber inzwischen ziemlich krank, deshalb freuen wir uns über jeden Auftritt, den er noch mitmachen kann“, erklärt Wallner. Kurz darauf wird Bartha im Rollstuhl auf die Bühne geschoben und bereichert den Sound der Gruppe mit seinem Djembe-Spiel.


Zuletzt ist die Band in Zwickau aufgetreten, in Tirol und sogar schon auf der Oidn Wiesn: In der „Boandlkramerei“ habe sich die bis dahin leere Tanzfläche schnell mit einer Polonaise gefüllt, vor allem ein paar norwegische Altrocker hätten die Performance aus Steinhöring ordentlich gefeiert, erzählt Wallner. Und auch wenn es mal nicht so optimal laufe mit dem Publikum, sagt Thomas Kießling, der Vater von Gitarrist Robin, gebe diese Band niemals auf. „Dann haben sie halt auf der Bühne ihren Spaß.“
An diesem Nachmittag aber steht ohnehin ein Heimspiel auf dem Programm: In Ebersberg haben die Mitglieder vom Roten Motorrad ein inklusives Festival initiiert, Veranstalter ist der Bezirk Oberbayern zusammen mit dem Einrichtungsverbund Steinhöring, das Motto lautet: „Let’s fetz!“ Dementsprechend unbeirrt brettert die BZ-Combo als Opener durch sein rockiges Lila-Laune-Land. Von Selbstzweifeln oder Lampenfieber keine Spur.
Los geht es mit einer exklusiven Bandhymne – und schon stehen die ersten Zuhörer und Zuhörerinnen auf der Tanzfläche, es wird ausgelassen mitgesungen und geklatscht. Zur berühmten Melodie von „Hot Love“ (T. Rex) hat Gitarrist Reinhard Bauer, ehrenamtlicher BZ-Mitarbeiter, einen wunderbar energischen Text geschrieben: „S’rote Motorrad hoast de Band, damit ihr uns jeatza kennt’s, aha-ha, zu de stoaneringer Werkstätten do ghörn mia dazua, aha-ha, san a bunt gmischter Haufa, kunterbunt wuid und frei! Ja des san mia!“
Mit den Spiders gibt es ein Bekenntnis zur Heimat: „Mir san a bayrische Band“! „Rock me“ startet mit dem berühmten Groove von Queen, bevor mit Voxxclub der Maibaum besungen wird. Fürs „Hiatamadl“ hat die Band extra das Jodeln gelernt – man müsse eben auch mal mutig sein, sagt Wallner und grinst. „Leben so wie ich es mag, Leben spüren Tag für Tag, das heißt immer wieder fragen, das heißt wagen, nicht nur klagen“, singt denn auch die Band. Bei „Hey, hey Wickie“ packt Sänger Tobi Kudler seine gefährlichste Stimme aus und Caro Dichtl legt ein rasantes Solo an den Kongas hin, angefeuert vom Rest der Band. Doch das Rote Motorrad kann auch leise, das beweist die Truppe mit „Sierra Madre“, gefühlvoll garniert mit Panflöte und Posaune.


Franz Wallner, der als Betreuer eigentlich schon seit fünf Jahren in Rente ist, stellt sich als Gitarrist und Organisator ganz in den Dienst der Sache. „Ich bin eigentlich nur fürs Starten und Stoppen da“, sagt er und lacht mal wieder. Jede Woche trifft sich die Band in ihrem Proberaum im Keller des BZ – wo Notenständer eher Mangelware sind. Klar, denn vieles passiert hier aus dem Bauch heraus, „ohne Rezept“, wie Wallner das nennt. Doch beim gemeinsamen Musizieren lerne man eben viel mehr als im „abstrakten Einzelunterricht“.
Wichtig ist Wallner vor allem die Toleranz, und dass die Musik handgemacht ist, von Grund auf ehrlich. Das bedeutet: Die Bandmitglieder mit Einschränkungen sind beim Roten Motorrad keinesfalls nur Staffage, sondern wirklich die Macher. „Hier wird ihnen nichts übergestülpt“, versichert Wallner. Freilich gibt es ein paar Stützen, an denen sich die anderen musikalisch festhalten können, wenn es mal wacklig wird. Doch der Rest wird mehr als wettgemacht durch pure Energie und Lebensfreude. So frei, so fein.
Tassilo-Kulturpreis der SZ
Kultur verbindet, Kultur bewegt – und Kultur braucht unsere Unterstützung: Zum dreizehnten Mal verleiht die Süddeutsche Zeitung den Tassilo-Kulturpreis. Diese Auszeichnung würdigt Arbeit und Wirken von Künstlerinnen, Künstlern und Kulturschaffenden im Großraum München. Hier stellen wir Ihnen die Preisträger vor, die die Jury, bestehend aus Kulturredakteurinnen und -Redakteuren der SZ, in diesem Jahr ausgewählt hat. Verliehen werden drei Hauptpreise sowie fünf Förderpreise. Außerdem stiftet das Spendenhilfswerk der Süddeutschen Zeitung, SZ Gute Werke, einen Kulturpreis, der besonderes soziales Engagement würdigt. Welchen Preis die Gewinnerinnen und Gewinner erhalten, wird bei der Verleihung am 26. November bekanntgegeben.





















