„Oh, da kommen die Wollnys!“ Wie Vorurteile Großfamilien begleiten | ABC-Z

Marielies, 27, wohnt in der Nähe von Karlsruhe: „Mit Jogginghose hätte ich nie rausgehen dürfen“
An eine Situation kann ich mich noch erinnern. Da waren wir im Urlaub; meine Eltern, vier Geschwister und ich stiegen aus dem Auto, da saßen so Leute auf der Treppe, und einer rief: „Oh, da kommen die Wollnys!“ (eine Großfamilie aus dem Reality-TV, d. Red.) Das war schon unangenehm. Und dabei habe ich ja noch mehr Geschwister, wir sind zu acht. Wir alle kennen natürlich die Vorurteile über Großfamilien, sogenannte Asi-Familien. Mit Jogginghose hätte ich deswegen früher nie rausgehen dürfen. Ordentlich aussehen, sich ordentlich ausdrücken – das war meinen Eltern wichtig. Wir sollten als Familie diesem Klischee entgegenwirken.
Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, es war immer ganz einfach mit dem Geld. Aber wir sind trotzdem wie andere Familien auch ins Kino gegangen und in den Urlaub gefahren. Es ist nicht so, dass es mich eingeschränkt hätte, dass nicht immer so viel Geld da war. Bei so vielen Kindern war meine Mutter eben immer zu Hause. Ich sage mal, das war auch so ausgemacht zwischen meinen Eltern. Sie haben sich immer viele Kinder gewünscht. Uns aufzuziehen war der Lebenstraum meiner Mutter, obwohl sie natürlich auch Opfer brachte – auch wenn sie selbst das nie so bezeichnen würde. Deswegen war es auch nicht so, dass unsere älteren Geschwister eine zusätzliche Elternrolle übernehmen mussten. Meine Eltern haben immer gesagt: „Es war unsere Entscheidung, so viele Kinder zu bekommen, also ist es auch unsere Verantwortung.“
Ich bin jetzt 27 und weiß, dass ich auch gern Kinder möchte. Aber nicht so viele wie meine Mutter. Ich habe so ewig studiert, ich möchte erst mal was draus machen. Seit Februar arbeite ich als Stadtplanerin. Ich weiß aber auch schon jetzt, dass ich mehr als ein Kind möchte. Meine Geschwister haben mir unglaublich viel gegeben, das würde ich für meine Kinder auch wollen.
Ich habe wirklich ein gutes Verhältnis zu allen. Vor allem wir jüngeren fünf haben sehr engen Kontakt. Sie sind für mich nicht nur Geschwister, sondern wie Freunde. In unserem letzten Urlaub haben wir einen Camper gemietet und sind in Frankreich die Küste runtergefahren.
Mit so vielen Geschwistern ist man nie allein. Wenn man irgendwo mal neu war, im Ferienlager oder so, war das immer schön. Aber manchmal hat man vielleicht dadurch auch ein bisschen das Gefühl, dass man nicht so sein eigenes Ding machen kann. Da hieß es dann an der Schule: „Ah, du bist doch die Schwester von . . .“. Wobei meine Eltern sehr viel Wert daraufgelegt haben, dass sich jeder individuell entwickelt, über unterschiedliche Hobbys zum Beispiel.
Ich glaube, mit so vielen Geschwistern aufzuwachsen hat mich selbständig gemacht, und ich bin deswegen auch sehr kompromissbereit und empathisch. Meine Eltern waren immer für mich da, wenn ich sie gebraucht habe, aber man spürt schon früh, dass die anderen eben auch Bedürfnisse haben.
Gertrud „Trudy“ Tertilt, 67, Hannover: „Als Älteste kam ich früh in eine Erziehungsrolle“
Mein Idealbild für ein kinderfreundliches Umfeld bis zur Pubertät ist Bullerbü: selbstbestimmter Aufenthalt im Freien mit anderen Kindern und ohne Aufsicht. Meine Kindheit auf einem Hof in Westfalen war so.
Das hat mich dazu bewegt, in der Stadtplanung die Bedürfnisse von Kindern in Großstädten zu untersuchen. Ich habe in China und Singapur gearbeitet und geforscht. Bewegungsprofile von Kindern in den Megacitys dort zeigen oft nur Aufenthalte von einigen Minuten pro Tag an der „frischen Luft“. Auch viele dieser Stadtkinder dürfen nur noch unter Aufsicht von Erwachsenen vor die Tür. Das hemmt ihre Entwicklung und das Immunsystem nachgewiesenermaßen. Außerdem sind Eltern und Kinder total aufeinander fixiert. Solche Helikoptereltern finde ich schrecklich.

Ich bin die Älteste von acht Geschwistern – und als ich 1958 geboren wurde, lebten in unserem Haushalt schon elf Personen. Unter anderem gab es da die Oma, Onkel und Tanten sowie Ferienkinder aus der Stadt. So eine Großfamilie mit vielen Kindern war damals nichts Besonderes, Westfalen ist katholisch.
Als ich aufgewachsen bin, hatten wir einen riesigen Aktionsradius. Wir waren sehr eigenständig und konnten uns auf dem Hof und in einem Umkreis von etwa drei Kilometern frei bewegen. Meine Eltern mussten arbeiten, das war von vornherein klar. Als ich zweieinhalb war, hatte ich schon drei Geschwister. Da kam man gar nicht auf die Idee, die Eltern für sich zu beanspruchen.
Meine Geschwister und ich wurden alle innerhalb von zehn Jahren geboren. Was das für meine Mutter bedeutet haben muss – bevor jeder Haushalt eine Waschmaschine hatte! –, verstand ich erst später.
Nach mir kamen drei Jungs. Als ich noch klein war, waren wir immer zu viert unterwegs, wir haben jeden Tag miteinander gespielt: Wir haben im Wald übernachtet, Bäche aufgestaut oder Fußball gespielt. Aber irgendwann, als ich ungefähr zwölf war, meinten meine Eltern, es wäre mal Zeit, dass ich mich mädchenhafter verhalte. Sie haben mir immer mehr Hausarbeit aufgebrummt. Aber auf dem Hof mitgearbeitet haben wir alle viel. Ich denke, dass wir deswegen so eigenständig waren: Wer Verantwortung trägt, kann auch sagen, was er will oder was eben nicht. Das hat uns allen später auch im Berufsleben genützt.
Das Verhältnis zu meinen Geschwistern war über die Jahre sehr unterschiedlich. Als Älteste bin ich früh in eine Erziehungsrolle gekommen. Das hat besonders meine jüngeren Schwestern gestört. Als Mädchen wurde ich zu Beginn der Pubertät vom Spiel von meinen Brüdern ausgeschlossen, aber zu den jüngeren Schwestern gehörte ich auch nicht. Ohne meine Geschwister musste ich mir also zum ersten Mal Spielkameraden außerhalb der Familie suchen. Schon mit 14 Jahren habe ich meinen späteren Mann kennengelernt und war dann viel mit seiner Clique unterwegs.

Als ich mein erstes von drei Kindern bekommen habe, waren meine jüngeren Geschwister noch im Partyalter. Sie gingen feiern, als ich ins Bett ging. Da gab es nicht viel Kommunikation. Das wurde erst besser, als sie selbst Kinder bekamen. Da hatten wir wieder Gesprächsthemen und ein besseres gegenseitiges Verständnis.
Um Rat gefragt hat mich trotzdem nie einer. Dafür haben meine Kinder und meine jüngeren Geschwister ein sehr gutes Verhältnis. Ich organisiere Familientreffen und betreibe Familienforschung.
Michael Spahn, 29, Wirsberg bei Bayreuth: „Man hat ja schon eine kleine Mannschaft beisammen“
„Erzähl’s Mama nicht“ ist ein Satz, der bei uns früher oft gefallen ist. Wir sind sieben Jungs – da gab es alles von Raufereien bis Eskapaden. Eine Zeit lang war das an der Tagesordnung, aber dazu gehörte eben auch, dass man am Abend schon wieder vergessen hatte, worüber man sich mittags gestritten hat. Schon damals haben wir uns gut verstanden. Mittlerweile wird nicht mehr gerauft, und insbesondere die Brüder, die mir vom Alter her am nächsten sind, gehören zu meinen besten Freunden.
Ich bin sehr privilegiert aufgewachsen: großes Haus, großer Garten und sehr behütet in einem kleinen Dorf. Meine Kindheit hatte einen sehr strukturierten Alltag. Nach der Schule direkt zum Fußball, dann gemeinsames Abendessen. Jeden Sonntag gab’s Braten, so ist das im Fränkischen. Im Kinder- und Jugendalter hat sich bei uns alles um Fußball gedreht. Bei so vielen Kindern hat man ja schon eine kleine Mannschaft beisammen. Der Sport und die Leidenschaft dafür haben uns damals zusammengeschweißt. Auch der Älteste und der Jüngste haben ein wirklich gutes Verhältnis. Wir hatten auch Freunde im Dorf, aber die hat es eigentlich gar nicht gebraucht.
Wenn wir irgendwo alle zusammen aufgekreuzt sind, wurde oft gefragt, ob wir eine Patchworkfamilie sind. Das sind wir nicht – dann kamen oft Sprüche, dass meine Eltern fabrikmäßig Kinder produzieren oder so. Aber ich habe das nie als bösartig wahrgenommen. Meine Familie ist in einer christlichen Gemeinde aktiv, da gab es noch andere Großfamilien. Eine sogar mit zwölf Kindern! Meistens haben die Leute mit einer Mischung aus Verwunderung und Bewunderung reagiert. Letztere vor allem für meine Mutter. Sie wurde oft gefragt: Wie kriegt ihr das hin?
Und das frage ich mich mittlerweile auch! Ich bin selbst Vater, mein Sohn ist jetzt vier – also nur ein Kind, und trotzdem: game over. Wenn wir früher in den Zoo gingen, waren das sieben Kinder und zwei Erziehungsberechtigte. Bei uns sind jetzt die Oma, der Opa und die Eltern nur für ein Kind da, und trotzdem ist es anstrengend – aber auch schön. Für mich ist offen, ob ich noch mehr Kinder möchte. Aber ich sehe zumindest nicht, dass es meinem Sohn schadet, keine Geschwister zu haben.
Seit ich Vater bin, verstehe ich meine Eltern besser. Sie waren früher sehr streng, wir sind oft angeeckt, ich mehr noch als mein älterer Bruder. Ich belege unter uns Söhnen den stabilen zweiten Platz. Mein großer Bruder hatte wesentlich mehr Verantwortungsbewusstsein dafür, dass das ganze Gefüge funktioniert.
Die Regeln zu Hause waren damals für mich unverständlich. Warum muss ich jetzt auf mein Zimmer? Warum bist du gerade so zu mir? Im Nachhinein verstehe ich es. Anders wäre es ja überhaupt nicht möglich gewesen, wir wären meiner Mutter konstant auf der Nase rumgetanzt. Ich denke, die Strenge hat mir gute Leitplanken fürs Leben gegeben.
Ein weiterer Grund, warum wir uns so nahe sind, ist auch der Glaube, mit dem wir erzogen wurden. Meine Eltern haben im Übrigen nicht deswegen so viele Kinder bekommen, um Gott irgendwie gefällig zu sein – ich denke, das war einfach etwas Intrinsisches, was sie sich gewünscht haben. Und der Glaube ist jetzt etwas, was uns alle verbindet. Und Braten gibt es auch noch jeden Sonntag.





















