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Wie Russland versucht, Kinder in besetzten Gebieten zu russifizieren | ABC-Z

Stand: 31.10.2025 20:43 Uhr

In Schulen und Camps wird der Krieg verherrlicht und zum Kampf gegen das eigene Land gedrängt – in den besetzten ukrainischen Gebieten sollen vor allem Kinder russifiziert werden. Das zeigt eine Dokumentation.

Ein neuer Film des ukrainischen Journalistenkollektivs Kyiv Independent dokumentiert, wie Russland Jugendliche in den besetzten ukrainischen Gebieten systematisch an seine eigene Armee heranführt. Russland wolle diese jungen Ukrainer dazu bringen, gegen ihr eigenes Land zu kämpfen – und womöglich auch in anderen Kriegen, so Olesja Bida, die Autorin des Films “The war they play” (auf Deutsch: “Der Krieg, den sie spielen”). “Es macht mir Sorgen, dass dem international kaum jemand Beachtung schenkt”, sagte sie gegenüber der ARD.

Einer der Protagonisten des Films ist Ihor, der zu Beginn der russischen Invasion in einem Dorf lebte, das schnell von der russischen Armee eingenommen wurde. Seinen echten Namen möchte er nicht veröffentlicht sehen. Vor einigen Monaten konnte er mit seiner Familie in den von der Ukraine kontrollierten Teil der Ukraine fliehen, nicht lange vor seinem 18. Geburtstag. “Als ich für das Rekrutierungsbüro der Armee meinen Lebenslauf aufschreiben sollte, habe ich verstanden, dass ich mit 18 nicht mehr würde ausreisen können”, erzählt er im Anschluss an die Präsentation des Films in Kiew.

Diese Erkenntnis sei einer der schlimmsten Momente unter russischer Besatzung gewesen: “Sie würden mich zwingen, gegen mein eigenes Land zu kämpfen. Daran wollte ich eigentlich lieber gar nicht denken”, erzählt er. Russland setzt Wehrdienstleistende zwar nicht an der Front ein. Die Ausbilder versuchen jedoch in vielen Fällen, sie dazu zu bringen, sich noch vor Ablauf des Wehrdienstes als Zeitsoldaten zu verpflichten. Dabei werde psychischer Druck auf die Wehrdienstleistenden erzeugt, wie zahlreiche russische Nichtregierungsorganisationen berichten.

Ein Riss durch die Familien

Der Film zeigt, wie Kinder und Jugendliche in den besetzten Gebieten russifiziert und mit einer militaristischen Ideologie erzogen werden. Der erste Schritt dahin: der Schulunterricht. Ukrainisch und ukrainische Geschichte gibt es in den Schulen der besetzten Ukraine nicht mehr. Stattdessen unter anderem den Pflichtkurs “Russland – meine Horizonte”, wie Ihor berichtet. Er informiere über Karrieremöglichkeiten in Russland. Regelmäßig kämen russische Soldaten in den Unterricht und verherrlichten den Krieg gegen die Ukraine. Das berichten auch andere Geflohene, mit denen Kyiv Independent sprach.

In Familien, die das Besatzungsregime ablehnen, erzeugt das häufig einen Riss in der Familie. So bei Ihor. Seine kleine Schwester, ebenfalls bei der Filmpräsentation in Kiew anwesend, sei eine gute Schülerin. Die Auszeichnungen, die sie in der nun russischen Schule erhielt, hätten sie stolz gemacht. Die Familie habe deshalb möglichst wenig mit ihr und in ihrer Anwesenheit über Politik und Schule gesprochen, so Ihor. Sie sollte die Meinung ihrer Eltern nicht aus Versehen in der Schule weitererzählen. “Gerade über die Kinder spüren die Besatzer oft Familien auf, die kritisch gegenüber dem Krieg, kritisch gegenüber Russland eingestellt sind”, so Ihor.

Denn die russischen Behörden hatten die Familie bereits unter Beobachtung. Die Eltern weigerten sich, die russische Staatsbürgerschaft anzunehmen. Es habe deshalb Hausdurchsuchungen und die Drohung gegeben, die Kinder in ein Internat zu bringen, so Ihors Mutter im Film. Dabei besuchten Ihor und seine Schwester noch heimlich den Online-Unterricht einer ukrainischen Schule. Das Telefon, mit dem sie sich einwählten, versteckte die Familie unter dem Nachttopf der Oma.

Heranführung ans Militär

Vor allem aber sind es – so stellt es der Film dar – russische Kinder- und Jugendorganisationen, die junge Menschen ans Militär heranführen. Bei den Zusammenkünften der Organisationen schrieben die jungen Menschen Briefe an russische Soldaten an der Front und lernten, mit Waffen umzugehen. In der Schule werde Druck ausgeübt, sich den Organisationen anzuschließen. Ihor kann das bestätigen.

Russische Kinder- und Jugendorganisationen eröffneten schon zu Dutzenden Büros in den besetzten Gebieten. Darunter die Organisationen “Junarmia” (auf Deutsch etwa “Jung-Armee”) und “Woin” (“Der Krieger”). Im Film tritt eine junge Frau auf, die dort Oksana genannt wird. Sie lebte bis vor kurzem in den von Russland besetzten Gebieten und verbrachte einige Wochen in einem paramilitärischen Ausbildungscamp von “Woin”. Dabei habe man sie getäuscht und behauptet, man würde sie in ein Ferienlager auf der Krim bringen.

Im Film erzählt Oksana, wie die Ausbildung ablief. Nach dem Frühstück hätten alle zum Morgenappell antreten und die russische Hymne singen müssen. “Von neun Uhr an hatten wir Unterricht – Militärtaktik, Medizin, Funkverkehr, wie man die Uniform richtig anlegt, wie man Drohnen steuert.” Im praktischen Teil sei sie einer Mineneinheit zugeordnet worden, so Oksana. Sie hätten gelernt, Gelände zu verminen und von Minen zu befreien. Auch wie man Granaten benutzt, habe zur Ausbildung gehört, ebenso das Ausheben von Schützengräben.

Bruch internationalen Rechts?

Über das Militärcamp für Jugendliche der Organisation “Woin” wird auch in russischen Medien berichtet. Das Ausbildungsgelände, das “Woin” nutzt, liegt bei Wolgograd. Örtliche Medien veröffentlichten die Aussage des Gouverneurs der Region, Andrej Botscharow, wonach rund 2.000 junge Menschen an so einem Camp teilnähmen. In einem von russischen Medien verbreiteten Zitat sagt Botscharow, die meisten der Teilnehmer stammten aus den annektierten ukrainischen Gebieten, für die Botscharow die in Russland gebräuchlichen Bezeichnungen benutzt.

Ukrainische Menschenrechtsorganisationen gehen davon aus, dass Russland mit seinem Vorgehen in den besetzten Gebieten internationales Recht verletzt. “Russland verstößt hier gegen das vierte Genfer Abkommen zum Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten”, sagt Kateryna Raschewska von der NGO “Regionales Zentrum für Menschenrechte” in Kiew. Insbesondere dürfe Russland nach internationalem Recht in den besetzten Gebieten keine Vorbereitungen treffen, um junge Männer in seine Armee einzugliedern. Der Film von Kyiv Independent nennt deshalb die Verantwortlichen und Organisatoren der militärischen Ausbildung von ukrainischen Jugendlichen – unter ihnen viele russische Teilnehmer des Kriegs in der Ukraine.

Haftbefehl gegen russische Kinder-Beauftragte

Wie Russland ukrainische Jugendliche in seinem Sinne beeinflusst, zeigen auch die jüngsten Aussagen der russischen Beauftragten für Kinderrechte Maria Lwowa-Belowa. In einem Interview mit dem regierungsfreundlichen Journalisten Wjatscheslaw Manutscharow beschreibt sie ihr Leben mit ihrem Adoptivsohn Filipp aus Mariupol.

Russland nahm die Stadt in den ersten Kriegsmonaten 2022 ein. Filipp sei von den Kampfhandlungen traumatisiert zu ihr in die Familie gekommen, so Lwowa-Belowa. Sie gibt zu, dass er anfangs nicht in Russland leben wollte und im Internet nach proukrainischen Inhalten suchte. Auch durch ihre langen Gespräche mit Filipp habe sich dessen Haltung zu Russland inzwischen geändert, behauptet Lwowa-Belowa, die wegen der Entführung ukrainischer Kinder nach Russland vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag mit Haftbefehl gesucht wird.

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