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Eintracht Frankfurts Jonathan Burkardt: Der Künstler des komischen Tores | ABC-Z

Er rutschte, rutschte und rutschte. Jonathan Burkardt schielte kurz nach oben, auf dem Videowürfel stand die Zahl 114:34 und jetzt die Ziffern 2:1, es blinkte: „Tor! Tor! Tor!“ Er breitete die Arme aus und schaute auf die Tribüne, na, wer hätte das gedacht? Ich wieder?

Ein paar Sekunden vorher war Burkardt genau dort gestanden, wo sich der Ball im Strafraum zu senken begann. Aber er stand nicht einen Meter weiter hinten, um ihn mit dem Fuß zu stoppen. Auch nicht einen Meter weiter vorne, um zu köpfen. Er stand dort, wo der Ball auf seinen Oberschenkeln landen würde. Der Stürmer machte sich also klein, spannte seinen Rumpf an und stieß den Ball ins Netz. Das Siegtor für die Eintracht im Pokalspiel gegen Dortmund am vergangenen Mittwochabend?

Es war dann nur das vermeintliche Siegtor, weil Burkardt nicht nur auf Oberschenkelhöhe stand, sondern auch auf Abseitshöhe. Aber keinem anderen Spieler hätte man auf dem Platz zugetraut, ein solches Tor zu schießen. Der Angreifer hat in seinen ersten Eintracht-Wochen den Ball mit dem Schienbein gestoßen, ihn stolpernd mit dem Innenrist gestreichelt, ihn im Fallen so in den Boden gedrückt, dass er sich über den Torwart hebt. Sechsmal traf er so bereits in der Bundesliga. Das sind mehr Tore, als jeder andere deutsche Stürmer bisher erzielte, weniger nur als Harry Kane, der Überstürmer der Bundesliga.

Am wichtigsten? Der Riecher!

Schon in Mainz erzielte Burkardt viele solcher Tore. Damals schien es oft, als sei das Glück oder Zufall. Manche nennen solche Treffer Stolpertor, andere Gurkentor. Das klingt abwertend, oft ist es auch so gemeint. Aber es ist eine Kunst, den Ball auch dann ins Tor zu schießen, wenn der Stürmer nicht alleine aufs Tor zuläuft. Burkardt ist der Künstler des komischen Tores.

Sein Trainer hat sich einen eigenen Begriff für dieses Tor ausgedacht: das Johnny-Burkardt-Tor. Am wichtigsten für einen solchen Treffer ist nicht die feinste Technik, nicht der kräftigste Schuss, sagt er. Sondern: „den Riecher zu haben, im letzten Moment vor dem Abwehrspieler zu sein und den Ball einzunicken.“ Sein Stürmer habe dafür ein „unfassbar gutes Gespür“, sagte Dino Toppmöller.

Abschluss 2: Jonathan Burkardt gegen St. PauliPicture Alliance

Anschauungsmaterial gibt es genug: Burkardts beide Tore gegen St. Pauli. Beim ersten Tor, dem mit dem Kopf, schleicht sich Burkardt weg vom Verteidiger, sodass sich sein Gegenspieler im Vertrauen wähnt, den Ball gleich wegköpfen zu können. Im letzten Moment huscht der Stürmer an ihm vorbei und köpft ein. Beim zweiten Tor ist der Ablauf ähnlich, auch hier versteckt sich Burkardt hinter dem Verteidiger, nimmt den Ball dann mit der Brust an und lässt ihn erst einmal auf den Boden titschen, bevor er schießt. Andere Spieler, auch seine Wunderstürmer aus der vergangenen Saison, wären hektisch geworden, sagte Toppmöller über dieses Tor. Burkardt aber blieb stehen und lupfte den Ball über den Torhüter.

Oft handelt der Stürmer so, weil er nicht der Schnellste ist. So gewinnt er einen Meter, manchmal auch zwei, diesen Vorsprung verliert er selten. Auf der rechten Seite weiß Ritsu Doan, wann Burkardt sich für einen kurzen Pass positioniert. Die beiden kombinieren sich durch die gegnerische Abwehr, ohne groß aufzufallen. Wie bei Burkardts Toren in Freiburg: Zweimal kommt der Ball überraschend zum Stürmer, zweimal denkt er schneller als der Verteidiger und schießt ihn ins Tor. Einmal mit seinem schwachen linken Fuß, einmal mit dem Schienbein.

Abschluss 3: Jonathan Burkardt gegen Freiburg
Abschluss 3: Jonathan Burkardt gegen FreiburgPicture Alliance

Selten sind das spektakuläre Tore. Burkardt zielt nicht aus 20 Metern in den Winkel wie sein Kollege Can Uzun. Und er schießt auch keine Hugo-Ekitiké-Tore, zuletzt zu sehen in der Champions League, als sich der Franzose vor der Mittellinie den Ball schnappte, über den halben Platz rannte, am Verteidiger vorbei – und dann den Torhüter tunnelte.

Das sind Tore, bei denen die Zuschauer kurz im Gespräch stocken und aufs Feld schauen. Burkardts Tore geschehen eher. Kaum einer rechnet mit ihnen. Sie sind trotzdem das Gleiche wert. Vor der Saison wechselte der gebürtige Darmstädter für mehr als 20 Millionen Euro zur Eintracht und folgte dort auf Ekitiké. Der Franzose ist 22 Jahre alt, Burkardt 25 – genauso alt wie Omar Marmoush, der in den Oktoberwochen der vergangenen Saison Tor um Tor schoss. Am Ende der Spielzeit stand Burkardt bei 18 Treffern, Ekitiké und der Vorrunden-Marmoush bei jeweils 15.

Abschluss 4: Jonathan Burkardt gegen Freiburg
Abschluss 4: Jonathan Burkardt gegen FreiburgPicture Alliance

Dass Burkardt nur rund ein Viertel so teuer war wie die beiden (Ekitiké: 95 Millionen Euro, Marmoush: 75 Millionen Euro), kann also weniger am Alter liegen. Und auch nicht an seiner Torgefahr. Es ist vermutlich eine Frage des Spielstils, mit ihrer Geschwindigkeit passen Ekitiké und Marmoush in den schnellen Fußball der Premier League. Und es ist eine Frage des Körpers. Zu einer Burkardt-Saison zählen nicht nur viele Burkardt-Tore, sondern auch manche Burkardt-Pausen. Oberschenkel, Knie, Rücken: In Mainz verpasste er jedes dritte Spiel.

Abschluss 5: Jonathan Burkardt gegen Union Berlin
Abschluss 5: Jonathan Burkardt gegen Union BerlinPicture Alliance

Auch der Eintracht fehlte er Anfang September ein paar Wochen. Seitdem aber trifft er. Per Elfmeter gegen Union oder per Rutscher gegen Gladbach. So schlau er sich auf dem Platz bewegt, so klug verhält er sich abseits von ihm. Burkardt ist, genau wie sein Vater, Eintracht-Fan, seit er mit einem kleinen Ball Flecken auf die frisch gestrichene Wand in seinem Kinderzimmer schoss. Selbst als er noch in Mainz spielte, ging er privat mit Freunden zu Spielen in Frankfurt. Darüber sprechen viele, nur er selbst nicht. Er ist der einzige Nationalspieler ohne Instagram-Profil. Es scheint, als wolle Burkardt keine Erwartungen wecken.

Abschluss 6: Jonathan Burkardt gegen Mönchengladbach
Abschluss 6: Jonathan Burkardt gegen MönchengladbachPicture Alliance

Als er in Madrid vor dem Champions League-Spiel sagte, er müsse mit dem Trainer besprechen, ob er auch am Samstag gegen Bayern München spielen könne, wirkte das seltsam. Wieso sollte der beste Eintracht-Stürmer nicht gegen die beste Mannschaft des Landes spielen? Er spielte dann, aber er schien auch vermeiden zu wollen, dass die ganze Eintracht-Welt damit rechnet, er könne nun immer alle drei Tage spielen.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.



Auch für Deutschland stürmte Burkardt fünfmal. „Wenn Jonny so weitermacht, kann er eine tragende Rolle bei der Nationalmannschaft im Sommer spielen“, sagte Eintracht-Sportvorstand Markus Krösche. Im Sommer, da ist Weltmeisterschaft, in den USA, Kanada, Mexiko. Im September noch fehlte Burkardt im Kader, weil Bundestrainer Julian Nagelsmann ihm Zeit geben wollte, sich in Frankfurt einzufinden. Bei den Länderspielen im Oktober war Burkardt wieder dabei, saß aber auf der Bank.

Er hat nicht die Finesse von Nick Woltemade, der sich und seine Hackentricks gerade in England bekannt macht. Und nicht das Tempo und die Ballsicherheit von Kai Havertz. Aber er war in der vergangenen Saison der gefährlichste deutsche Stürmer in den großen europäischen Ligen, vor Woltemade und Tim Kleindienst. Er ist es in dieser Saison wieder. Es gebe in diesem Land nicht so viele Stürmer, die regelmäßig treffen, sagte Krösche vor der Partie an diesem Samstag (15.30 Uhr im F.A.Z.-Liveticker zur Bundesliga und bei Sky) gegen den 1. FC Heidenheim noch. Für Deutschland aber schienbeinte, stolperte oder lupfte Burkardt in seinen 106 Einsatzminuten noch nicht. Ist das nicht komisch?

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