Höflichkeit in der Politik: Bürgerlich sind weder Linke noch AfD | ABC-Z

Die Meinungsfreiheit wird von einer ungeahnten Seite her bedroht. Erstaunlich viele Befragte geben in Umfragen an, sie trauten sich nicht, ihre Meinung zu sagen, weil sie dadurch „in die Ecke“ gestellt würden, und zwar in die rechte. Das Phänomen lässt sich als eine Reaktion auf „politische Korrektheit“ deuten, auf eine Anstandskontrolle über politische Sitten, eine Kontrolle, die bevorzugt aus der linken Ecke betrieben wird. Wer dagegen aufbegehrt, wirft sich in einen Kulturkampf. Das ist auch jetzt wieder einmal so. Das Stadtbild lässt grüßen.
Es ist bemerkenswert, dass „Anstand“ in solchen und vielen anderen Debatten zu einem Anliegen linker politischer Kultur geworden ist. Noch bemerkenswerter ist, dass sich diese Kultur dabei auf bürgerliche Werte beruft. Es sei nicht bürgerlich, was die AfD anbiete, hieß es kürzlich wieder vonseiten der SPD, deshalb sei eine Zusammenarbeit nicht möglich. Ähnlich könnte es auch von Politikern der Grünen vorgebracht werden.
Vor Jahren hätte es aus der SPD, erst recht aus den Reihen der Grünen noch genau umgekehrt geheißen: Weil etwas bürgerlich sei, könne es nicht „alternativ“, nicht progressiv, nicht „bunt“, nicht sozialdemokratisch sein.
Bürgerlich-höflich war spießig und faschistisch
Was anständig, was sagbar ist, was nicht, wurde damals, es waren die Zeiten der Achtundsechziger-Revolution und deren Ausläufer, entlang völlig anderer Maßstäbe beurteilt. Wer bürgerlich-höflich sein wollte, war im besten Fall spießig und unmodern. Höflich stand für höfisch, für verlogen, für elitär. Wer darauf Wert legte und dafür kämpfte, musste, so der Vorwurf, einen autoritären Charakter haben. Was so viel bedeutete wie: faschistisch.
Höflichkeit galt als Mittel der Repression, der Einschüchterung, der Unterdrückung von Wahrheit, von Offenheit, von Gleichheit, von Freiheit. Es stand für alles, was eine Gesellschaft deformierte, eben für das Bürgerliche. Kein Linker wäre deshalb auch nur auf den Gedanken gekommen, sich als bürgerlich zu bezeichnen.
Die antibürgerliche Haltung blieb nicht ohne Folgen auf den Umgang miteinander. Höflich zu sein kam aus der Mode. „Das tut man nicht“ – ein Satz aus vergangenen Zeiten, die für Linke immer auch die faschistischen Zeiten waren. Alles durfte also gesagt und getan werden, je antiautoritärer, „befreiter“ und ungezügelter, desto besser. Wo ein Tabu war, es musste weg.
Der Sinn von Höflichkeit ging verloren
Der Ton wurde ruppiger. Der eigentliche Sinn von Höflichkeit geriet in Vergessenheit. Denn ihr ging es nicht um Repression, sondern um die Pflege von Normen – eben bürgerlicher Anstandsformen, die nicht nur den Alltag regelten, das persönliche Miteinander, sondern auch politische Inhalte. Um die ging es aber.
Unsere Zeit rennt diesen Formen verzweifelt hinterher. Die Hassrede im Netz ist nur eine von vielen Erscheinungen, die zeigen, was verloren gegangen ist. Weil aber Normen nicht mehr gelten, die Gesellschaft entleert worden und nichts mehr selbstverständlich ist, soll der Staat einspringen. Hass, Hetze, Catcalling – anscheinend können nur Gesetze, kann nur die Polizei wieder einfangen, was früher Höflichkeit unter sozialer Kontrolle und im Gehege der Zivilisation gehalten hat.
Wenn nur noch der Staat helfen kann
„Das tut man nicht“ ist allerdings aus dem Mund des Staates etwas ganz anderes als aus dem Mund der Gesellschaft. Wenn sich die Linke als vermeintlich bürgerlich geriert und ihren Begriff von Bürgerlichkeit verstaatlichen will, ist sie so „bürgerlich“, wie sie es den Bürgerlichen vor Jahr und Tag vorgeworfen hat.
Ihr Anstand ist ein Mittel der Repression, der Einschüchterung, der Unterdrückung von Wahrheit, von Offenheit, von Gleichheit, von Freiheit. Die Keulen werden immer größer und sind immer schneller zur Hand: Rassismus, Sexismus, Nazismus, Faschismus. Ergebnis sind die erwähnten Meinungsumfragen.
Ironie der Geschichte ist, dass nun ausgerechnet die radikale Rechte die Formen übernommen hat, die von links her der Bekämpfung der Höflichkeit dienten. Die AfD pfeift auf das Sagbare, sie pfeift auf Formen, sie pfeift auf Anstand und Tabus. Zwar tragen die neuen Alternativen die Perlenketten der Bürgerlichen von gestern, aber ihre Umgangsformen in der politischen Arena sind so proletenhaft und so unhöflich wie die der von ihr verachteten Achtundsechziger. Sie sind kein bisschen besser.
Auf das Bürgerliche sollten sich weder die einen noch die anderen berufen. Es dient ihnen allein als Etikett zur Bekämpfung des politischen Gegners. Was die einen heraufbeschworen haben, die ungezügelte „Ehrlichkeit“ zur Verdrängung politischer und kultureller Zöpfe, dient den anderen als Revanche zur Rückeroberung verlorener Hegemonie.
Bürgerlich sind weder die einen noch die anderen. Denn sie wollen nicht leben und leben lassen, sondern vorschreiben, wie wir zu denken, wie wir zu leben, wie wir uns zu verhalten haben. Das tut man nicht.





















