Kultur

Aktivismus, Kunst und Selbstinszenierung: Milo-Rau-Halbdunkel in Wien | ABC-Z

Milo Rau hat kurz vor dem Waffenstillstand im Gazastreifen einen offenen „Brief an meine Freund:innen“ nachgereicht. Darin ortet der Intendant der Wiener Festwochen ein „beredtes Schweigen“ der Kulturinstitutionen zum Gazakrieg und spricht über „linguistische Spielereien“ um den Genozidbegriff. Nun trifft sein Aufruf zum „Widerstand“ allerdings auf anhaltenden Widerspruch – nicht nur in Wien

„Wir müssen unsere Aufmerksamkeit auf das lenken, was draußen geschieht in der Welt. Und wir müssen aufhören, darüber zu schweigen,“ so formulierte Rau, als Waffenstillstand, Befreiung der Geiseln und ein Ende des Krieges bereits absehbar waren. Der Intendant der Wiener Festwochen veröffentlichte den „Brief an meine Freund:innen“ auf der Website des Festivals.

Ein „Genozid“ in Gaza ist dem Schweizer Theatermacher selbstverständliche Tatsache. Also kein Tatvorwurf, der von unabhängigen internationalen Gerichten erst noch zu prüfen wäre, sondern Fakt. Denen, die seinem Urteil widersprechen, wirft er vor, lediglich Zeit zu vergeuden – „linguistische Spielereien“.

Neu-Testamentarisch

In einer Sprache, deren Duktus bisweilen an christlich-pietistische Erweckungspredigten samt Zitaten aus dem Neuen Testament erinnert, appelliert Rau in apokalyptischer Dringlichkeit an die Ak­teu­r:in­nen im kulturellen Feld nicht zu „Mitschuldigen“ zu werden: „Seid ein Beispiel, seid frei. Zu reden und nicht zu schweigen bedeutet, keine Angst zu haben.“

Was vermittelt Rau die Wahrnehmung eines impliziten Schweigegebots? Zeigt sich doch mit Boykottaufrufen gegen israelische oder jüdische Künstler, Wissenschaftler oder auch nur Gastronomen, permanenten Demonstrationen, Ausladungen von Gastspielen, Angriffen auf jüdische oder israelische Menschen und Einrichtungen in Europa vielfach ein ganz anderes Bild.

Ich finde Milo Rau da einfach zu oberflächlich

Elfriede Jelinek, Schriftstellerin

Sein in vielen Sprachen publizierter Brief fand im deutschsprachigen Raum kein Medium, das bereit war, ihn zu veröffentlichen. Während sein Brief im Kontext seines internationalen Netzwerks als „zu wenig und zu spät“ wahrgenommen wurde, so Rau, stößt er im Deutschsprachigen auf scharfe Kritik.

Klassischer Faschismus?

„Wir sind die drei Nationen des klassischen Faschismus“, schreibt er. Wobei der Schweizer Rau sein „Wir“ hier auf Deutschland, Italien und Österreich bezieht und die Eidgenossenschaft darunter subsumiert. Und weiter: „Wir haben vor nicht langer Zeit einen Völkermord geplant und ausgeführt, den Genozid an den europäischen Juden*Jüdinnen, den schrecklichsten Völkermord aller Zeiten.“

Die Geschichte der Täternation erfordere nicht allein eine besondere Wachsamkeit gegenüber alten wie neuen Formen des Antisemitismus. Er überträgt sie in wenigen flinken Sätzen auch auf andere Konflikte. Vom Holocaust zum Gazakrieg, die klassische Täter-Opfer-Umkehrung.

Über die Erfahrung des historischen Versagens der Täternationen im Holocaust erhebt Rau so den Anspruch, auf eine Observanz gegenüber dem Judenstaat, um diesen seinerseits davor zu bewahren, genozidale Verbrechen zu begehen.

Raus Begründung

Dazu befragt, warum er das tut, sagt Rau, er habe „ganz bewusst auf die tiefenhistorische Ursache dieses Grauens hingewiesen, auf jenen Genozid nämlich, den Deutschland und Österreich mit all ihren Kollaborateuren an den europäischen Juden begangen haben.“ Denn dies habe „zu den andauernden Folgekonflikten in Israel und Palästina geführt.“

Auch wenn es nicht die Intention Raus sein mag, sind solche Äußerungen als Delegitimierung Israels im Nahen Osten zu verstehen, da sie die Angriffe auf Israel lediglich als „Folgekonflikt“ europäischer Verbrechen darstellen.

Rau kritisiert die Taten der Hamas zwar ebenso wie die Kriegsführung der israelischen Streitkräfte, sieht sich gar an der Seite der „liberalen israelischen Zivilgesellschaft“. Doch scheint dies eher das Resultat skrupulöser Abwägungsversuche, um beim antizionistischen juste millieu seiner internationalen Kontakte sowie dem lokalen Diskurs anschlussfähig zu bleiben. Er stößt damit jedoch auf massiven Widerspruch. Und der kommt diesmal nicht aus dem notorisch rechten Lager, sondern aus der kritischen Kunst- und Kulturszene.

Jelinek, Rabinovici, Gaus und Schindel

Eine „Absage“ an Raus Brief haben mittlerweile über 150 Persönlichkeiten aus dem kulturellen Feld unterschrieben, darunter so prominente Autoren wie Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek, Doron Rabinovici, Olga Flor, Karl Markus Gauß, Monika Helfer, Michael Köhlmeier, Martin Prinz, Robert Schindel und Vladimir Vertlib.

In ihrem Gegenbrief rufen sie dazu auf, sich den „antijüdischen Boykotten in der Kulturszene“, „Judenhass und Israelhetze“ entgegenzustellen. Rau störe „nicht das Schweigen über die antisemitischen Attacken und Attentate in vielen Ländern. Zu leise noch findet er jene, die gegen den Judenstaat hetzen.“

Denn von einem solchen Schweigen wüssten die jüdischen Menschen in Europa nichts. „Sie hören das Gebrüll jener hunderten Manifestationen in denen die Vernichtung Israels gefordert wird.“ Die Unterzeichnenden weisen einseitige Schuldzuweisungen im Nahen Osten zurück.

Und werfen Rau vor, er spekuliere lediglich mit dem Skandal. Es gehe ihm weniger um die Menschen in Gaza und Israel, sondern „er will Aufmerksamkeit und Quoten – und zwar auf Kosten des jüdischen Lebens in Österreich.“

Bedauern Jelineks

Besonders schmerzlich für Rau dürfte die Unterschrift von Elfriede Jelinek sein, die ihrerseits die Entwicklung bedauert. Jelinek verweist auf die Ambiguität in Raus Texten und sagt: „Man kann nur falsch liegen, weil jede Äußerung einen zwingt, totalitär zu argumentieren, und ich finde Milo Rau da einfach zu oberflächlich. Er schreibt von diesem Einerseits und Andrerseits, diese Begriffe werden geradezu formelhaft beschworen, ständig, aber was ich derzeit, gerade von Kulturschaffenden, aber auch von der Linken höre, ist nur dieses einzige Andrerseits.“

Wo man „derzeit eher von Frieden und Versöhnung sprechen müsste“, höre sie, so Jelinek, „von Seiten des Kulturbetriebs und der Linken dieses aggressiv aufgeladene ‚Völkermord‘-Geschrei“.

Alexander Karschnia, Mitbegründer der Gruppe andcompany&Co und gelegentlicher Autor der taz, kritisiert in einem gesonderten Schreiben an Rau eine „weaponization“ des Genozidbegriffs. „Wer von ‚Genozid‘ spricht, spricht nicht von einem Krieg, der beendet werden könnte, sondern gestoppt werden muss ‚by any means necessary‘. Mit den Folgen, dass „der Terror der Hamas nicht nur nicht länger erwähnt wird, sondern dass er dort, wo er erwähnt wird, oft relativiert und verharmlost bis begrüßt und gefeiert wird“.

In Raus Text bleibt zudem die Frage offen, wer sich hinter dem „Wir“ verbirgt, das darin genau 32 Mal vorkommt. Der Künstler? Das Festival? Die versammelte Szene?

Alle gleich bedroht?

Der in Berlin lebende Regisseur und Kostümbildner Amit Epstein bestreitet in einem weiteren offenen Brief an Rau, „dass wir alle auf dem gleichen Boden stehen, im gleichen Licht, in der gleichen moralischen Entfernung von der Gefahr.“

Rau behaupte, wir seien hier nicht bedroht. „Einige von uns sind es“, so Epstein. Jede Konversation am Theater beginne derzeit mit einem „loyality-check“. Er müsse dabei ständig beweisen, dass seine Trauer nicht „zionistisch“ sei, seine Furcht nicht „reaktionär“.

In seiner sechs Seiten langen Erwiderung „Komplexität aushalten“ versucht Rau nun seine Kritiker regelrecht zu umarmen: „Wenn Milo Rau das wirklich so geschrieben und gesagt hätte, wie hier unterstellt wird, dann würde ich diesen Brief sofort selbst unterschreiben.“

Doch sein Versuch, alle Menschen guten Willens wie üblich im abstrakten Kampf „gegen rechts“ zu einen, scheitert nun. Milo Rau führt die Kunst als moralische Instanz an ihre Grenzen.

Bei Emile Zolas „J’accuse“ in der Dreyfuss-Affäre oder Jean-Paul Sartres Anklage gegen die Gräuel der Kolonialmacht Frankreich in Algerien galt moralische Selbstermächtigung als letztes Mittel – und nicht als fortdauerndes Geschäftsprinzip.

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