Kirche in Grafing: katholisch-muslimische WG im Pfarrhaus – Ebersberg | ABC-Z

Da sitzen sie an diesem großen Tisch, der wie gemacht scheint für fröhliche Essensrunden mit lebhaften Diskussionen und viel Lachen: Stephan Rauscher aus dem kleinen Gachenbach bei Schrobenhausen und sein Mitbewohner, der Afghane Scherzai Mohammadi. Seit wenigen Wochen wohnen die beiden im Grafinger Pfarrhaus. „Man hat uns einen offenen Empfang bereitet. Von Anfang an habe ich gespürt, dass man sich über mein Kommen freut“, sagt der neue Dekan und Leiter der Pfarrverbände Grafing und Aßling.
Der 45-Jährige ist ein Energiebündel: immer in Bewegung und nie um eine Pointe verlegen. Sein rund 20 Jahre jüngerer Hausgenosse ist dagegen eher bedächtig und hintergründig heiter. Darum lächelt er nur leise, als Rauscher auf die Frage, wer den Müll rausbringe, mit spitzbübischem Grinsen antwortet: „Das macht der Scherzai. Der übrigens auch wunderbar kocht. Ich bin fürs Waschen und Bügeln zuständig, das kann er nicht.“ Schnell wird klar: Hier begegnen sich zwei Menschen mit sehr viel Humor, Respekt und Zuneigung.
Denn neben dem „Tratzen“, dem neckenden Schlagabtausch, gibt es auch Raum für ernste Gespräche. „Mit ihm kann ich über meine Vergangenheit und meine Probleme reden. Er hat einen ‚Vogelblick‘, erkennt, was wesentlich ist“, sagt der reflektierte, junge Mann mit dem einnehmenden Wesen über seinen älteren Mitbewohner, der ihn wiederum als „herzensguten Kerl“ bezeichnet.
Als das Schicksal die beiden vor fast fünf Jahren an Rauschers früherer Wirkungsstätte, dem Pfarrverband Holledau im Landkreis Freising, zusammenführte, schien es zunächst nur um einen weiteren Fall von Kirchenasyl zu gehen. Schon mehr als zwei Dutzend andere Male war der „Pfarrer mit Leib und Seele“ aufgrund seiner Überzeugung, dass man nicht Nächstenliebe predigen und dann Menschen vor der Tür stehen lassen könne, bereits aktiv gewesen.
:Einer für alle
Stephan Rauscher wird neuer Pfarrer in Grafing und Aßling. In seinem bisherigen Pfarrverband Holledau ist er oft unkonventionelle Wege gegangen.
„Eigentlich wollte ich eine Pause machen“, erinnert sich Rauscher. Nicht nur hatte man ihm gerade erst das Dekanat Freising übertragen, kurz zuvor war auch sein geliebter Hund Xaverl gestorben. Tief traurig sei er gewesen. „Doch dann rief der Anwalt an, bat um Hilfe. Noch am gleichen Wochenende kam der Scherzai.“
Der Flüchtling hat eine Menge erlebt. Nachdem seine Familie im Heimatland von bewaffneten Banden bedroht worden war, hatte seine Mutter, eine Mathematiklehrerin, 2015 ihr gesamtes Erspartes aufgewendet, um dem damals 15-Jährigen eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Zu Fuß trat er die gefahrvolle Reise nach Europa an, schlug sich ganz allein in Griechenland, Ungarn und Österreich durch, bevor er herausfand, dass ein entfernter Cousin in Starnberg lebte. Darum wollte er nach Oberbayern.

So gelangte Mohammadi zu Rauscher und dessen damaligen Zugehörigen, zwei Dillinger Franziskanerinnen. Als Kaplan in Velden an der Vils hatte er die heute 87 und 90 Jahre alten Klosterschwestern Gunhild und Answina kennengelernt und sie 2013 an seine Stelle in Attenkirchen „mitgenommen“. Zwar schliefen sie in einem anderen Gebäude des Pfarrverbands, „aber jeden Morgen kamen sie in ihrem kleinen Auto angefahren und verbrachten den Tag bei mir.“
Den jungen Geflüchteten schlossen die beiden Seniorinnen sofort ins Herz. Er unterstützte sie bei der Haushaltsführung, übernahm das Putzen und Kochen. Außerdem kümmerte er sich nach dessen Ankunft um den Welpen Loisl, wie sein Vorgänger ein Gebirgsschweißhund. „Scherzai durfte ja aufgrund des Kirchenasyls das Gelände nicht verlassen, also übernahm er die komplette Erziehung“, sagt Rauscher. Kein Wunder, dass der freundliche Hund dem jungen Kinderpfleger nicht von der Seite weicht.
Zu dieser Ausbildung entschloss sich Mohammadi nach der Anerkennung seines Asylantrags – nach „einem Kampf bis hoch zum Innenminister“ – und diversen Praktika. Damit übt sein Schützling den gleichen Beruf aus, den Theologe Rauscher vor dem Spätberufenen-Abitur und dem Studium gewählt hatte. „Er macht das so gut, die Kinder lieben ihn – auch im Kindergarten in Eglharting, wo er seit dem Umzug arbeitet. Aber entschieden für diese Arbeit hat er sich aus freien Stücken und nicht etwa, um mir einen Gefallen zu tun“, betont der Dekan.

In Sachen Religion habe er nie versucht, den Muslim zu bekehren: „Glauben hat was mit Freiheit zu tun.“ Allerdings tausche man sich oft über Koran und Bibel aus, diskutiere, streite „im positiven Sinn“ und entdecke immer wieder Gemeinsamkeiten, vor allem im Hinblick auf den sozialen Gedanken.
Gibt es denn bei so viel Harmonie gar keine Unterschiede? „Klar“, sagt Rauscher und geht voran in den Nebenraum, wo eine Wand von einem Bücherregal bedeckt ist, während sich an der anderen um die 2000 DVDs aneinanderreihen. Mohammadi sei ein eifriger Leser, greife in erster Linie zu Klassikern wie Goethe, Zweig und Kafka. „Und wenn wir gemeinsam etwas anschauen, bevorzugt Scherzai Dokumentationen.“ Er selbst wiederum fände Entspannung eher in der Unterhaltung. „Egal ob Actionfilm oder Schnulze, nur Horror mag ich nicht“, gesteht der Mann im Talar.
Den trägt er ganz selbstverständlich auch im Alltag. „Dazu stehe ich, das ist meine ‚Uniform’“, scherzt er. Vielleicht deswegen habe man ihn schon mit „Don Camillo“ verglichen. Nicht ganz von der Hand zu weisen ist auch eine gewisse Ähnlichkeit mit dem verschmitzten „Pater Brown“, dessen freundlicher Gelassenheit selbst Gegenwind nichts anhaben kann. Zumindest teilen sie das Faible für (fiktionale) Verbrechen. Rauscher kennt alle Folgen von „The Mentalist“ und „Bones“.

Vor allem aber setzt er sich wie die beiden literarischen Figuren mit Vorliebe für die Gemeinschaft ein und schätzt das Miteinander. So habe ihn vor dem Entschluss, Pfarrer zu werden, nicht der Verzicht auf die Ehe am meisten umgetrieben, sondern die Angst, „allein bleiben zu müssen und ein einsamer Mensch zu werden“. Sei er doch in einem Zuhause mit Eltern, Geschwistern, Großeltern, Onkel und Tanten aufgewachsen, in dem immer etwas los gewesen sei.
Darum schuf er sich von Anfang an „Ersatzfamilien“. Ein Segen auch für Scherzai Mohammadi, der seine Mutter seit zehn Jahren nicht mehr gesehen hat. Die geschätzten „Ersatzomas“ leben übrigens seit 2024 im Mutterhaus in Dillingen. „Mit umziehen tun wir nimmer“, hätten sie gesagt. Jede Woche gibt es ein Telefonat, spätestens alle sechs Wochen werden sie besucht. Was die Männer-WG sonst noch so macht? Ausflüge in die Berge, Schach spielen, Musik. Klavier und Gitarre stehen im Wohnzimmer gleich neben dem Tisch.





















