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Ultramarathon: Warum der Lauf der Extreme auf La Réunion so fasziniert | ABC-Z

Wer sich hier zu Fuß auf den Weg macht, durchquert in wenigen Stunden Welten. Auf La Réunion führen die Wanderwege von der Küste hinauf zu den Vulkanen, hinab in die Talkessel und weiter durch tropische Wälder. Bei jedem Schritt wechselt das Bühnenbild. Und bei gefühlt jedem zweiten wird man als Wanderer überholt. Von Menschen, die die Wege der Insel im Indischen Ozean entlanglaufen – von Trailrunnern. „J’ai survécu“, „Ich habe überlebt“, ist auf manchen Oberteilen zu lesen. Es sind die Finisher-Shirts des 175 Kilometer langen Ultra-Trails Grand Raid. Ein Ultra-Marathon, der aber durch die Bergwelt führt.

Yoann Mornet ist unzufrieden mit dem Slogan, obwohl er selbst bereits viermal die sogenannte Diagonale der Verrückten absolviert hat: 175 Kilometer, 10.500 Höhenmeter. Nach dem diesjährigen Grand Raid, der am Donnerstag beginnt und am Samstag endet, läse er lieber „Ich habe es genossen“. Denn die eigenen Grenzen auszutesten, will er nicht romantisieren. Ungefährlich ist Trailrunning nicht, auch beim Grand Raid kam es in den vergangenen Jahrzehnten bereits zu Todesfällen durch Stürze.

Mornet stören Bilder von Teilnehmern, die mit etlichen Verbänden im Ziel ankommen. Von denen, die gegen die Uhr laufen, nicht auf den eigenen Körper achten. Was er sich wünscht, ist eine gemeinsame Kultur um das Laufen, die im Grand Raid einen jährlichen Höhepunkt findet. Eine Kultur, bei der Natur, Wege und Tiere respektiert werden. Eine solche treibt er mit Laufklubs, Abenden für den Austausch und einem Universitätsdiplom im Trailrunning voran.

Schon seit 1989 findet der Grand Raid statt – und fasziniert. „Seit ich ganz klein war, wurde um mich herum immer davon gesprochen“, sagt der 31 Jahre alte Didier Robert, der auf La Réunion geboren und aufgewachsen ist. Im Radio, in der Presse und auf den Straßen gebe es im Oktober kein Vorbeikommen am Grand Raid. Erzähle Robert anderswo in der Welt, dass er sich für das Laufen interessiere und woher er komme, werde er immer gefragt, wann er teilgenommen habe. Doch dabei war er noch nie. In diesem Jahr will Robert endlich einen „Haken daransetzen“. Mitlaufen und ankommen.

Seit Februar trainiert er für den zweitlängsten von fünf Läufen am Wochenende des Grand Raid, den Trail de Bourbon. In den vergangenen Jahren lief er Trails zwischen acht und 50 Kilometern, nun steigert er die Kilometerzahl und die Höhenmeter auf die gesetzte Zielmarke: 100 Kilometer, 6000 Höhenmeter. Darauf bereitet sich der Hobbysportler im Trail-Klub vor, den Mornet vor eineinhalb Jahren im Süden der Insel gründete.

Werte gegenüber der Natur vermitteln

Den Laufklub sieht Mornet als Gelegenheit für einen zwanglosen Austausch. Es soll sein wie bei den Abenden im Lokal, zu denen er einlädt: Jeder könne kommen, niemand werde beurteilt. Gesellig soll es sein. Er wünscht sich, beim Trailrunning „nicht gegeneinander, sondern miteinander“ unterwegs zu sein.

Es ist eine Idee, die Mornet auch in seiner Arbeit an der Universität einbringen wollte. Anders als Robert kommt er vom Festland, zog erst vor vier Jahren in die französische Überseeregion, wo er an der Université de La Réunion Sport lehrt. Seit zwei Jahren verantwortet er das neugegründete Diplom in Trailrunning. Hier geht es auch um die Sportpraxis. Und darum, in einem Jahr Wissen etwa an Physiotherapeuten und Ärzte zu vermitteln, die es anwenden und weitergeben – und zusätzlich eigene Impulse einbringen können. Die Idee zur Spezialisierungsausbildung bringt er vom französischen Festland mit, wo Trailrunning sich in den Programmen zwei weiterer Hochschulen finde.

Auf der Diagonale: Vorjahressieger Mathieu Blanchard
Auf der Diagonale: Vorjahressieger Mathieu BlanchardIMAZ PRESS REUNION

Eine gemeinsame Kultur rund um das Laufen weiterentwickeln: Dahinter steckt für Mornet auch der Anspruch, Werte zu vermitteln. Gegenüber der Natur. Der Geschichte der Kolonialisierung und Sklaverei auf der Insel. Im bis heute nur zu Fuß erreichbaren Talkessel Mafate versteckten sich Sklaven, legten die Wege dorthin an. „Das darf man nicht vergessen“, sagt Mornet. „Manchmal nutzt, konsumiert man die Berge und Wanderwege, ohne darüber nachzudenken, was dahintersteckt. Dann verliert es seine Bedeutung.“

Einen Stellenwert für die Insel sieht Eric Lacroix darin, dass nicht nur Profiläufer am Grand Raid teilnehmen. Als Mentalcoach begleitete Lacroix den französischen Vorjahressieger Mathieu Blanchard in seiner Vorbereitung auf den Lauf. Der Leiter des Hochschulsports der Université de La Réunion, der ebenso zu Trailrunning lehrt, betont die Zeit, die die Teilnehmer bekommen: 66 Stunden für 175 Kilometer, das sei deutlich mehr als bei anderen Ultratrails einer vergleichbaren Länge.

Der Sieger wird in der Regel in unter 24 Stunden im Ziel erwartet. Die Läufe mit Längen von 50 bis zu den 175 Kilometern bleiben solche der Extreme. Doch etliche Menschen wagen sich selbst auf die Diagonale der Verrückten. Sie müssen Kriterien erfüllen, zwei Trails oder Ultratrails absolviert haben in den vergangenen eineinhalb Jahren. Von den 3000 Plätzen gehen dann 1250 per Losverfahren an lokal ansässige Läufer.

In wenigen Tagen kommt das Leben auf der Insel wieder fast zum Stillstand. Die Straßen werden verstopft sein, weil Menschen im Auto zu den Verpflegungsstationen drängen, schauen und mitfiebern wollen. „Ich kann es kaum erwarten, denn wir haben lange trainiert“, sagt Robert. Er sei gestresst, aber bereit, sich auf den Weg zu machen – und eine Erinnerung zu schaffen, die nicht nur vom Überleben erzählt.

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