Bezirke

Als Bär Bruno durch Bayern streifte und schließlich erschossen wurde – Rückblick auf 2006 – Bayern | ABC-Z

Ein österreichischer Hüttenwirt will ihn nahe Zirl gesehen haben. Der Bär habe versucht, in ein Nebengebäude einzudringen. Der Wirt – mit seiner Freundin den Geräuschen folgend – schaute nach dem Rechten, worauf der Bär die Flucht ergriff. Das war in der Nacht auf Donnerstag. Und jetzt werden dem Wirt die gleichen Fragen gestellt, die schon seit Wochen Bauern, Schäfer, Touristen und Bären-Experten im bayerisch-österreichischen Grenzgebiet beantworten müssen: Wie fühlen Sie sich? Hatten Sie Angst? Meinen Sie, der Bär sollte getötet werden?

Das Thema ist mindestens so spannend, wie der Dax, Ballacks Wade und der Ölpreis zusammen. Und: Zwischen zwei und hundert Lebensjahren hat doch wirklich jeder was dazu zu sagen. Taxifahrer melden sich zu Wort, Lastwagenlenker, Imker und Jugendliche wollen das Phantom geortet haben. Das macht die Sache interessant. Also los. Suchen helfen.

Hier oben, auf der nach einem steilen, eineinhalbstündigen Fußmarsch von Mittenwald aus erreichbaren Ederkanzel, könnte der Bär in den letzten Tagen mehrmals vorbeigekommen sein. Und dort drüben könnte er sein. Vielleicht.

Auf seinem Weg aus Vorarlberg (zwei Schafe gerissen) und Martinau (Fenster eines Bienenstands eingedrückt) nach Graswang in Bayern (drei Schafe gerissen), zurück nach Tirol (Zusammentreffen mit einem Jäger, Bienenstockplünderung im Zillertal), dann wieder nach Bayern (drei Schafe in Klais, drei Schafe am Lautersee) und zuletzt zum Hüttenwirt nach Zirl. Seither gibt es keine Spur vom Bären.

Braunbär Bruno bei einem Spaziergang in der Nähe des Spitzingsees im Juni 2006. Kurz darauf wurde er erschossen.
Braunbär Bruno bei einem Spaziergang in der Nähe des Spitzingsees im Juni 2006. Kurz darauf wurde er erschossen. (Foto: Anton Hötzelsperger/dpa)

Selbst die 30 Tiroler Jäger, die ihn in der Nacht auf Freitag in der Gegend von Seefeld stellen wollten, sind gescheitert. Sie hatten einen Schützen mit einem Betäubungsgewehr dabei. Eine Bärenfalle stand bereit und sogar ein Hubschrauber war bestellt. Nur der Braunbär ließ sich nicht blicken, und so mussten die Tiroler wieder abziehen. Er streift also wahrscheinlich noch immer hier oben, in den Wäldern zwischen Bayern und Österreich, recht unverdrossen umher.

Herr Sandmann aus Berlin, der sich bei herrlichstem Sonnenschein bei übersüßem Cappuccino und Käsekuchen auf der Ederkanzel zum Reporter setzt, findet diese Wanderei höchst merkwürdig. Er findet es allerdings auch merkwürdig, dass sich der Bär nicht „mit Wärmekameras von der Bundeswehr“ orten lässt. „Das müssten die doch hinbekommen.“ Am merkwürdigsten freilich findet Freizeitwanderer Sandmann den Namen JJ1. Sandmann sagt, er heiße ja auch nicht AE1, sondern Manfred. Der 70 Jahre alte Rentner, der früher bei einer Krankenkasse gearbeitet hat – „und jetzt reise ich halt mindestens 13 Wochen jährlich durch die Welt“ – fragt sich: „Wenn JJ1 mal Kinder hat, wie sollen die denn heißen?“

Eine berechtigte Frage. Gestellt auf einer Hütte in 1208 Meter Höhe, unweit einer Kinderschaukel, hinter der sich ein rotes Schild „Achtung, Staatsgrenze“ befindet. Hier, unterhalb des Karwendel, oberhalb des vom Bär besuchten Lautersees und mit Blick auf Heuschober in Leutasch/Tirol, an denen JJ1 auch vorbeigekommen sein soll, sagt Herr Sandmann aus Berlin: „Was ich mich frage: Warum frisst der bei den von ihm gerissenen Schafen immer nur das Herz und die Leber?“

Genauso interessant wie dieses neue Gerücht ist freilich der schon seit Wochen andauernde, mitunter ungemein skurril anmutende Umgang der deutschen Öffentlichkeit mit dem Thema. Während der Berliner Kurier titelt „Zottel-Streuner ist ein Italiener“ und die Münchner Abendzeitung über JJ1’s Mutter spekuliert: „Vielleicht trank sie auch“, gehen Welt („Seiner Abschiebung entzieht sich JJ1 durch Untertauchen“) und FAZ („Der Bär entstammt nicht ganz einfachen Familienverhältnissen“) das Thema eher sozialpolitisch an. Die Süddeutsche Zeitung vermutete schon lange vor WM-Beginn: „Italien hat seinen ersten Tifoso über die Alpen geschickt“, Bild verkürzt: „Bär macht alle balla-balla!“ und die taz philosophiert: „Wer vom Bären gefressen wird, der hat zumindest noch einmal etwas erlebt.“ Stimmt.

Auch Harald Schmidt scherzt über „Bärlusconi“, der Fernsehsender NTV macht Umfragen (69 Prozent meinen, man müsse ihn lebend fangen, nur zwölf Prozent wünschen seinen Tod) und ein Münchner Ordinariatssprecher verweist auf den Bären im päpstlichen Wappen, welcher „sein Heimatrecht in Bayern neu bekräftigt“. Im italienischen Fernsehen wird die deutsche Bären-Hysterie eher kopfschüttelnd beobachtet. Südlich der Alpen findet sich bekanntlich weit mehr als nur ein freilebendes Exemplar. Allein die Bauern in den französischen Pyrenäen fühlen sich verstanden. Seit Monaten protestieren sie dagegen, dass aus Slowenien importierte Bären ausgerechnet ihre Schafe reißen. Sie legten sogar schon vergifteten Honig aus.

Es ist halt alles nicht so leicht. Zumal inzwischen Witzbolde ihre Späßchen mit dem Bären treiben. In Scharnitz bastelte ein Scherzkeks eine lebensgroße Bärenattrappe und platzierte sie so in der Landschaft, dass sie bald entdeckt werden musste. Keiner weiß, was sich die eilends angerückten Bärenfänger gedacht haben, als sie erkannten, dass ihnen da bloß einer einen Bären aufbinden wollte.

Eigens aus Finnlang waren Bärenjäger mit ihren Hunden eingeflogen worden, um Bruno zu fangen. Erwischt haben sie ihn nicht. 
Eigens aus Finnlang waren Bärenjäger mit ihren Hunden eingeflogen worden, um Bruno zu fangen. Erwischt haben sie ihn nicht.  (Foto: Frank Leonhardt/dpa)

Dabei hoffen alle auf einen guten Ausgang der Geschichte. Die deutsche Kondensmilchfirma zum Beispiel, die die Bär-Lebendfang-Röhre gesponsort hat, welche bereits in Tirol in den Wald gestellt wurde. Auch der World Wildlife Fund, der bei seinen Mitgliedern einen Ansehensverlust erfahren könnte – sollte JJ1 nicht schonend gefangen werden. Eine lebendige Auslieferung wünschen sich letztlich auch die im Grenzgebiet recht zahlreich umherstreunenden Bären-Experten aus Deutschland und Österreich – im Zusammenspiel mit finnischen Hundeführern. Fragt sich nur, was passiert, wenn der Braunbär auch da nicht mitmachen will.

„Nein, die dürfen den nicht töten“, sagt Kellnerin Susanne am Lautersee und zückt ihr Handy. Als JJ1 vor ein paar Tagen drei Schafe am See – nur ein paar Meter vom Restaurant Lautersee-Stubn entfernt – gerissen hatte, machte sie sich mit ihrem Handy auf den Weg, um einen Original-Fußabdruck zu fotografieren. Das Ergebnis erinnert ein bisschen an die ersten Fotos vom Mond – lange vor der Landung. „Ich hätte eine höhere Auflösung wählen sollen“, sagt Susanne. „Was der Bär braucht, ist eine Frau“, meint Frau Kemser vom Seehof nebenan. „Es gibt einfach zu wenig Bären hier, da hat er es schwer bei der Partnersuche.“ Und vor der Waldlehrpfadtafel „Die rote Ameise“ fühlt sich Ingenieur Günther aus der Nähe von Münster an das „Ungeheuer von Loch Ness“ erinnert: „Man weiß ja gar nicht mehr, was jetzt noch stimmt.“ So ist das, mit einem Phantom – irgendwo in den Wäldern zwischen Bayern und Österreich.

Brunos kurze Zeit in Bayern – die Chronik

Mehr als fünf Wochen lang war der Braunbär JJ1 alias Bruno im bayerisch-österreichischen Grenzgebiet unterwegs. Im Mai wurde er zuerst gesehen, Ende Juni war er tot. Eine Chronologie aus Spuren, Sichtungen, Bärenattacken und Beinahe-Betäubungen.

  • 17. Mai 2006: Erste Sichtung nahe der deutschen Grenze im Tiroler Lechtal.
  • 17. Mai 2006: Erste Sichtung nahe der deutschen Grenze im Tiroler Lechtal.
  • 18. Mai: „Der Bär ist in Bayern willkommen“, erklärt Bayerns Umweltminister Werner Schnappauf.
  • 20. Mai: Der Bär ist in Deutschland. Bei Garmisch-Partenkirchen reißt er drei Schafe, einen Tag später weitere vier.
  • 22. Mai: In Grainau tötet der Bär Zuchttauben und Schafe. Bayerns Umweltministerium erklärt den Bären zum „Problembären“. Er wird zum Abschuss freigegeben, tags drauf auch in Österreich.
  • 27. Mai: Der Bär vernascht im Zillertal einen Bienenstock.
  • 1. Juni: Bayern will den Bären mit Hilfe finnischer Jäger und deren Elchhunden aufspüren. Er soll nur im Notfall abgeschossen werden.
  • 2. Juni: Österreich widerruft die Abschussgenehmigung.
  • 4. bis 6. Juni: JJ1 reißt bei Garmisch drei Schafe und verletzt vier weitere. In Tirol plündert er einen Kaninchenstall. Jugendliche sehen ihn bei Scharnitz. In der Öffentlichkeit wird der Bär nun „Bruno“ genannt.
  • 7. Juni: Die Umweltstiftung WWF stellt eine Röhrenfalle auf.
  • 11. Juni: Die Finnen sind da. Sie nehmen mit ihren Hunden Brunos Spur auf.
  • 13. Juni: Der Bär wird im Karwendel gesehen. Durch die Hitze verflüchtigt sich die Spur jedoch.
  • 14. Juni: Am Sylvensteinspeicher bei Lenggries streift ein Auto den Bären, der aber unverletzt bleibt und entkommt.
  • 15. Juni: Bei Lenggries wird Bruno von einem der finnischen Elchhunde gestellt. Er entwischt.
  • 17. Juni: Bruno marschiert durch Kochel am See, wird von einem Spaziergänger beobachtet und sitzt kurz vor der Polizeiwache. Mitten im Ort bricht er einen Kaninchenstall und einen Bienenstock auf. Ein Platzregen verhindert, dass die Jäger die Spur aufnehmen können.
  • 20. Juni: In Kreuth reißt Bruno Schafe und bricht Bienenstöcke auf.
  • 22. Juni: Der Strategiewechsel beginnt: Bayern will den Abschuss erlauben, falls die Betäubung des Bären fehlschlägt.
  • 23. Juni: Bayern erteilt eine vom 27. Juni an geltende Abschussgenehmigung.
  • 24. Juni: Das finnische Bärenfangteam reist ab. Auch Tirol erteilt eine Abschussgenehmigung. Wanderer folgen dem Bären beim Aufstieg zur Rotwand.
  • 26. Juni: Der Bär ist tot. Er wird in der Nacht nahe der Kümpflalm an der Rotwand von Jägern erschossen.
Back to top button