Wirtschaftlich könnte ein Palästinenserstaat überleben | ABC-Z

Für die Palästinenser ist es bitter: Je mehr Staaten einen fiktiven „Staat Palästina“ anerkennen, desto kleiner wird die Fläche, auf der dieser Staat sich hätte konstituieren können. Als es noch eine Chance zur Gründung eines Staates Palästina gegeben hatte, war sie ungenutzt verstrichen.
Erst nachdem sich die Tür geschlossen hatte, erkannte eine überwältigende Mehrheit der Staatengemeinschaft den Staat der Palästinenser an. Bislang haben es rund 160 der 193 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen getan, zuletzt – unter dem Eindruck des Kriegs in Gaza, zu dem Israel weder einen Zeitplan für eine Beendigung vorlegt, noch ein Konzept für die Zeit nach dem Krieg – erstmals auch Schwergewichte der westlichen Welt wie Großbritannien, Kanada, Australien und Frankreich.
Die Befürworter führen überzeugende Argumente ins Feld. Sie wollen der Zweistaatenlösung eine letzte Lebenschance geben. Sie übersehen aber, dass die Voraussetzungen nicht mehr gegeben sind. Zum einen blockiert die Terrororganisation Hamas, weil sie die Zweistaatenlösung ablehnt und Israel zerstören will. Zum anderen will Israel einen solchen Staat nicht, und auch die Vereinigten Staaten haben unter Präsident Donald Trump das Lippenbekenntnis früherer US-Administrationen aufgegeben, eine Zweistaatenlösung anzustreben.
Die politischen Voraussetzungen sind also nicht mehr gegeben. Wäre aber ein Staat Palästina wirtschaftlich überhaupt lebensfähig? In einer idealen Welt wäre dies der Fall. Diese ideale Welt wäre dann gegeben, würde Israel einem benachbarten Staat Palästina eine Chance geben und mit ihm zusammenarbeiten wollen. Mit dem Friedensprozess von Oslo schien das in Reichweite zu rücken. In Oslo hatten sich Israel und die Palästinenser 1993 darauf verständigt, dass nach einer Übergangsfrist von fünf Jahren ein unabhängiger Staat Palästina entstehen soll.
1995 wurde aber der israelische Ministerpräsident Yitzhak Rabin von einem zionistischen Extremisten erschossen, 1996 wurde Benjamin Netanjahu erstmals Ministerpräsident. Von Beginn an schloss er einen Staat Palästina kategorisch aus und förderte sogenannte jüdische Siedlungen in den seit dem Sechstagekrieg von 1967 besetzten Gebieten. Heute leben im Westjordanland neben 3,5 Millionen Palästinensern eine halbe Million Siedler, und die aktuelle israelische Regierung beansprucht das ganze Land vom Mittelmeer bis an den Jordan. Damit erübrigen sich Spekulationen über einen Staat Palästina, der auf den 1967 von Israel eroberten Gebieten hätte entstehen sollen.
Was heute im Westjordanland ein verarmter Landstrich ist und in Gaza ein zerstörter Küstenstreifen, hätte sich zu einer prosperierenden Volkswirtschaft entwickeln können. Einen ersten Schub hätte die Ausbeutung von Bodenschätzen geben können. Die Abkommen von Oslo räumten der 1994 gegründeten Palästinensischen Autonomiebehörde das Recht ein, die vor Gaza liegenden Offshore-Gasfelder auszubeuten. Dazu ist es nie gekommen. Die Vereinten Nationen schätzten den Wert nach Abzug der Entwicklungskosten auf 4,6 Milliarden Dollar. Palästina hätte preiswerten Strom produzieren und sich dem Gasklub im östlichen Mittelmeer anschließen können.
Die Chancen eines neuen Staates
Wie Israel und Jordanien, so könnte auch Palästina die Mineralien im Toten Meer ausbeuten, etwa Pottasche und Brom. Die Weltbank schätzte vor mehr als einem Jahrzehnt, dass das zur Wirtschaftsleistung Palästinas ein Zehntel beitragen könne. Beide Ressourcen, das Gas und die Mineralien, blieben aufgrund der israelischen Besatzung jedoch außer Reichweite. Allein würden sie auch nicht ausreichen. Dazu bedarf es weiterer Einkommensquellen.
Nutzen könnte dem Staat Palästina die Einbindung in die israelische Wirtschaft und in den großen arabischen Markt. Denn der heimische Markt ist mit fünf Millionen Verbrauchern für die Entwicklung größerer Betriebe zu klein. Mit wettbewerbsfähigen Produkten und dem Label „Made in Palestine“ könnte die arabische Welt mit ihren mehr als 450 Millionen Verbrauchern, die dann ihre Solidarität mit den Palästinensern zeigen, ein lukrativer Markt werden. Eine Wirtschaftsunion mit Israel würde sicherstellen, dass palästinensische Pendler ohne Schikanen in Israel Arbeit finden und dort Produkte aus Palästina verkauft werden könnten. Zudem leben weit mehr als zwei Millionen Palästinenser in der Diaspora. Sie können mit ihrem Kapital und ihrer unternehmerischen Erfahrung für Projekte in Palästina gewonnen werden.
Voraussetzung dafür ist jedoch eine gute und effiziente Regierungsführung, was unter der Palästinensischen Autonomiebehörde, die wegen ihrer Neigung zu Korruption zu Recht kritisiert wird, nie gewährleistet war. Abhilfe könnten dabei Partnerschaften mit den Golfstaaten schaffen, zu deren Erfolgsgeheimnis „good governance“ gehört.
Israels Bomben treffen auch eine regionale Integration
Die regionale Einbindung eines Staates Palästina würde die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass er nicht scheiterte. Doch scheint sich die Vision eines biblisch inspirierten Zionismus durchzusetzen, der keinen Raum für eine regionale Integration sieht. Zunehmend unrealistisch wird mit dem israelischen Gebaren, die Region militärisch neu ordnen zu wollen, die von den arabischen Golfstaaten verfolgte Vision einer regionalen Integration. In sie wäre ein Staat Palästina eingebunden.

Vorangetrieben wird sie von Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Staaten. Damit verknüpft sind die Abraham-Abkommen und das futuristische Projekt Neom. Bei dem geht es nicht um die Länge des spektakulären Projekts „The Link“, sondern die Botschaft der geographischen Lage von Neom: Der künftige Hub eines integrierten, wirtschaftlich prosperierenden Nahen Ostens soll in dem Vierländereck liegen, das Saudi-Arabien, Ägypten, Jordanien und Israel, einschließlich der palästinensischen Gebiete, gemeinsam bilden. Das ohnehin langfristig angelegte Projekt wird mit jedem Tag jedoch weniger realistisch. Denn die Golfstaaten knüpfen die Beteiligung Israels an die Gründung eines Staates Palästina.
Israel schmälert jedoch mit jedem Monat die Chance eines solchen Projekts. Dazu trocknen die Israelis die Palästinensische Autonomiebehörde, die Regierung im Westjordanland, finanziell aus, sodass die vor dem finanziellen Kollaps steht. An ihr hängen mehr als 50 Prozent der Erwerbstätigen im Westjordanland, deren Gehälter nicht mehr oder nur teilweise ausbezahlt werden. So hält Israel die Steuern und Abgaben zurück, die sie aufgrund der Abkommen von Oslo einzieht und an die Autonomiebehörde monatlich überweisen soll – es aber nicht tut.
Zudem zieht Israel die Schlinge um den Hals der palästinensischen Geschäftsbanken enger, seit Finanz- und Siedlungsminister Bezalel Smotrich den israelischen Banken Geschäfte mit ihnen untersagt hat. Angeordnet hatte er das Verbot als Vergeltung für die Anerkennung des Staates Palästina durch europäische Staaten. Während einer weiteren Welle der Anerkennung hatte er den Plan vorgelegt, 82 Prozent des Westjordanlands zu annektieren. Jede Aktion hatte er mit der Aussage verknüpft, dass es einen Staat Palästina nicht geben werde.
Auch wenn es der Wille einer großen Mehrheit der Staatengemeinschaft ist: Solange Israel es nicht akzeptiert, hat das Projekt eines Staates Palästina keine Aussicht auf Erfolg. Im Gegenteil florieren die Phantasien, die Palästinenser zur Schaffung eines Groß-Israel aus dem Gazastreifen wie aus dem Westjordanland zu vertreiben.
Rainer Hermann
Rainer Hermann berichtete für die F.A.Z. als Korrespondent aus Istanbul und Abu Dhabi. Von 2012 bis 2023 betreute er als Redakteur in der Zentralredaktion die Türkei, die arabische Welt und Iran.
Bild: FAZ





















