Machtmissbrauch im Fußball: Erschreckende Dimension von Gewalt durch Trainer | ABC-Z

Eine aktuelle Recherche des Medienhauses “CORRECTIV” und des Fußball-Magazins “11 Freunde” weist auf eine erschreckende Dimension des Machtmissbrauchs im deutschen Fußball hin. Ein Fall, der derzeit vor dem Landgericht Essen verhandelt wird, offenbart das Dilemma für Vereine und Verbände.
“Nicht öffentliche Sitzung” steht häufig an der Tür von Saal 244 des Landgerichts Essen. Das Schild leuchtet immer dann, wenn die mutmaßlich Betroffenen als Zeugen geladen sind. Die Aussagen der sieben überwiegend minderjährigen Jungen dauern zum Teil mehrere Stunden. Sie müssen ihre Geschichte noch einmal erzählen und durchleben.
Der Angeklagte hingegen schweigt. Der frühere Fußballtrainer äußert sich bislang nicht zu den Vorwürfen. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm unter anderem schweren sexuellen Missbrauch von Kindern in 153 Fällen vor, sowie gefährliche Körperverletzung, Bedrohung und Nötigung. Die mutmaßlich Betroffenen: sieben Jungen, zur Tatzeit zwischen 9 und 15 Jahre alt.
“Ich finde es erschreckend”, sagt Henry. Denn das Verfahren erinnert den jungen Mann, der tatsächlich anders heißt, an seine eigene Geschichte. Im vergangenen Jahr stand sein früherer Fußballtrainer in München vor Gericht. Der Prozess hatte damals aufgrund der Dimension für große Wahrnehmung gesorgt. Weit mehr als 600 Taten des sexuellen Übergriffs und der Vergewaltigung an 25 Spielern sah das Gericht als erwiesen an.
Der Angeklagte hatte seinerzeit gleich zu Beginn des Verfahrens vor dem Landgericht München ein Geständnis abgelegt. Dadurch hat er für sich eine mildere Strafe erreicht und vielen Betroffenen die Aussage vor Gericht erspart – auch Henry. Nachdem klar war, sein Trainer muss für siebeneinhalb Jahre ins Gefängnis, hat Henry seine Geschichte erzählt.
In der WDR-Dokumentation “Ich bin stärker als Du” hat er geschildert, wie die vom Täter als Physiotherapie bezeichneten “Behandlungen” tatsächlich abgelaufen waren, dass es schwere sexuelle Gewalt war. Der Verurteilte hatte das Abhängigkeitsverhältnis und das Vertrauen der Jungen gezielt und perfide ausgenutzt, die begeisterten Fußballer manipuliert. “Gehirnwäsche” haben manche das genannt.
Auch Betroffener aus WDR-Doku beteiligt sich
Das Verfahren sei für ihn eine Möglichkeit gewesen, so Henry, mit dem Geschehenen abzuschließen: “Am Anfang hatte ich das Gefühl, dass es mir für immer schlecht geht. Dass es mich für immer betreffen wird und ich nie wieder ein glückliches Leben haben kann.” Seit dem Urteil vor anderthalb Jahren habe er aber gemerkt, “dass es gar nicht so ist. Ich stehe jeden Morgen mit einem Lachen auf und ich genieße den Tag. Ich habe ein gutes Gefühl, wenn ich durch den Tag gehe.”
Henry erzählt seine Geschichte und berichtet von den Taten, weil er andere sensibilisieren und Betroffenen Mut machen will, zu sprechen. Deshalb hat er sich auch an der aktuellen Online-Befragung des Magazins “11 Freunde” und des Medienhauses “CORRECTIV” beteiligt.
“Ich finde, es ist ein sehr wichtiges Thema, das weiter behandelt werden muss”, sagt Henry vor wenigen Tagen im Interview mit der Sportschau und dem Deutschlandfunk. Mit dem Erzählen seiner Geschichte verknüpfe er die Hoffnung, dass “immer mehr Leute aufstehen und sich melden und sagen, was ihnen passiert ist”.
Grenzverletzungen, Mobbing, Erniedrigung, Vergewaltigungen
500 Personen haben sich an der Umfrage beteiligt und laut “11 Freunde” und “CORRECTIV” von Grenzverletzungen, Mobbing, Erniedrigung bis hin zu Vergewaltigungen berichtet. “Ein Riesenschritt”, weiß Henry aus eigener Erfahrung: “Ich finde das unfassbar stark, dass die sich gemeldet haben.” Allerdings ist ihm auch klar: Es muss viel, viel mehr Betroffene im Fußball geben.
Darauf deutet auch die Recherche von “11 Freunde” und “CORRECTIV” hin: Das Team ist Ermittlungsverfahren zu sexualisierter Gewalt im Fußballkontext nachgegangen und nach eigenen Angaben auf 37 solcher Verfahren in den vergangenen fünf Jahren gestoßen, mit mindestens 130 minderjährigen Geschädigten.
“Betroffene tun sich schwer, Anzeige zu erstatten”
“Wir wissen aus unseren Studien, dass sich Betroffene von Gewalt sehr schwertun, überhaupt eine formale Anzeige zu erstatten, sich zu melden, um Hilfe zu bitten”, stellt die Kölner Sportsoziologin Bettina Rulofs fest. Sie forscht seit Jahren zum Thema physische, psychische und sexualisierte Gewalt im Sport und geht davon aus, “dass die Fälle, die bei der Staatsanwaltschaft ankommen, nur ein kleiner Ausschnitt des Problems sind”.
Laut Statistik gibt es rund 2,4 Millionen Mitgliedschaften von Kindern und Jugendlichen bis 18 Jahren in deutschen Fußballvereinen. Zahlreiche dürften Ähnliches erlebt haben wie Henry und zumindest laut Anklage die Jungen in Essen.
Schon einmal Vorwürfe gegen den Essener Trainer
Während des Prozesses vor dem Essener Landgericht wird klar: Bereits 2011 hatte ein damals minderjähriger Fußballer Anzeige gegen den jetzt angeklagten Trainer erstattet und Taten geschildert, die dieser an ihm verübt haben soll – zwischen 2008 und 2011. Die Staatsanwaltschaft Duisburg stellte das Verfahren ein. Nach Informationen von Sportschau und Deutschlandfunk hielt ein aussagepsychologisches Gutachten die Schilderungen des jungen Fußballers damals offenbar für nicht ausreichend glaubwürdig.
Gerichtsgebäude in Essen
Das könnte eine schwerwiegende Fehleinschätzung gewesen sein. Zwischen der ersten Anzeige und dem aktuellen Prozess liegen mehr als dreizehn Jahre. In dieser Zeit konnte der Angeklagte weiter als Trainer arbeiten und – wie die Staatsanwaltschaft ihm nun vorwirft – den von ihm trainierten Kindern schwere Gewalt antun.
Eine Trainerlizenz hatte der Angeklagte nach Sportschau-Informationen nicht. Sie ist zwar nicht zwingend vorgeschrieben, aber wer keine Lizenz hat, erhält auch keine Schulungen und Sensibilisierungen in Sachen Kinderschutz. Auch ohne Lizenz konnte der Angeklagte so in mindestens fünf Vereinen im Ruhrgebiet und Düsseldorf Training geben.
“Es scheint, dass Datenschutz vor Kinderschutz steht”
“Vereinshopping” nennt Sportsoziologin Bettina Rulofs dieses Verhalten. Sie beschreibt Fälle, in denen Trainer “die Gewalt ausüben, offenbar, wenn sie in einem Verein aufgedeckt werden, den nächsten Verein aufsuchen und hier nochmal auffällig werden”. Die Möglichkeit, andere Vereine zu warnen, gebe es hier nicht: “Es scheint so zu sein, dass der Datenschutz vor Kinderschutz steht”, schildert Rulofs ihre Erkenntnis aus Fachgesprächen, in denen dieses Problem immer wieder diskutiert werde.
Auch im DFB ist das Problem lange bekannt. Vizepräsident Ronny Zimmermann empfiehlt seinen Vereinen einen informellen Weg, wenn sich ein neuer Trainer bewirbt – Nachfragen beim vorherigen Verein: “Man muss ja nicht unbedingt sagen, ‚da besteht ein Verdacht’, sondern man kann einfach sagen, der ist schwierig, wir hatten Probleme und deshalb hat es nicht funktioniert.”
Ob das im Fall des Angeklagten in Essen passiert ist, ist nicht bekannt. Die ihm zur Last gelegten Taten soll er zwischen 2008 und 2025 verübt haben. Er habe sich als Polizist ausgegeben, schildert ein Vater, sei häufiger Gast der Familie gewesen. So hätten die Eltern keinen Verdacht geschöpft und ihre Kinder mit sicherem Gefühl das Übernachten beim Trainer erlaubt.
Unter anderem in dessen Essener Wohnung soll es zu den schweren sexuellen Übergriffen, körperlichen Misshandlungen (mit Elektroschockern) gekommen sein. Auch soll der Angeklagte den Kindern gedroht haben, Familienmitgliedern etwas anzutun, wenn sie über die Taten berichten würden.
Laut DFB-Vizepräsident Ronny Zimmermann sei es für den Verband schwer, – etwa von Gerichten konkrete Informationen über die Taten zu bekommen. “Wenn wir Sachverhalte kennen, können wir gucken, was man anders und besser machen kann”, sagt er.
Henry regt Präventionskampagne an
Wer diesen Prozess in Essen beobachtet, lernt – selbst draußen vor der Tür – viel über Strukturen im Fußball, die Übergriffe begünstigen. Sachverhalte, aus denen vermutlich auch der DFB zahlreiche Erkenntnisse für seine Präventionsarbeit gewinnen könnte. Henry hat ganz konkrete Vorstellungen, wie der DFB Haltung zeigen könnte beim Thema Prävention sexualisierter Gewalt.
Er denkt da an die Kampagnen gegen Rassismus, die ihm sehr wichtig sind: etwa vor Länderspielen der Nationalmannschaft oder kurze Spots vor Champions-League-Spielen, “say no to racism”: “Ich glaube, jeder, der mal Fußball gespielt hat, kennt diesen Clip. Genau das gleiche wünsche ich mir für Prävention sexualisierter Gewalt. Damit jeder sieht: Es gibt ein Thema, das behandelt werden muss.”





















