Stiller Hilferuf: Wenn Worte zu gefährlich sind – Freising | ABC-Z

Auch wenn es am Ende nicht die vermutete Entführung war: Seinen Zweck hatte der stille Hilferuf, den die Flugpassagierin am Gate zu ihrem Flug nach Kopenhagen absetzte, erfüllt. Eine Mitarbeiterin der Lufthansa erkannte die heimliche Geste – „Daumen in die Handfläche, Faust schließen“ – als Hinweis auf eine Notlage und informierte die Polizei, die umgehend reagierte. Bundespolizisten nahmen sich der Frau und ihres Begleiters an, später klärte die Polizei auf: Das Paar hatte wohl eine körperliche Auseinandersetzung gehabt, die Frau keinen anderen Ausweg gesehen, um den gemeinsamen Abflug zu verhindern.
Entwickelt hat das von ihr verwendete Handzeichen ursprünglich die kanadische Frauenrechtsorganisation Canadian Women’s Foundation, als sich vor ein paar Jahren im ersten Lockdown der Corona-Pandemie die Fälle häuslicher Gewalt häuften. Betroffene Frauen sollten damit unauffällig um Hilfe rufen können, das international verständliche Zeichen sollte auch in Videocalls heimlich nutzbar sein und – anders als E-Mails etwa – keine digitalen Spuren hinterlassen.
Das könnte hilfreich sein, denn auch in Deutschland ist häusliche Gewalt ein massives Problem, mit und ohne Corona. Statistisch gesehen wird hier alle zwei Minuten ein Mensch von seinem Partner, Ex-Partner oder einem Familienangehörigen misshandelt – meist sind es Frauen. Tendenz laut Bundeskriminalamt: steigend.
Nur: Wie etabliert ist der stille Hilferuf hierzulande? Wie oft gibt es Fälle, in denen das Zeichen gegeben und bemerkt wird?
Die Bundespolizei jedenfalls nutzte den Vorfall am Flughafen gleich einmal, um über den Whatsapp-Kanal der Behörde darauf aufmerksam zu machen. Das Beispiel zeige, wie wichtig es ist, dieses Handzeichen zu kennen, und ernst zu nehmen, heißt es da. Es folgt eine genaue Anleitung: 1. Hand offen zeigen, 2. Daumen auf die Handfläche legen, 3. Finger über den Daumen schließen. Mit dem Post wolle man dazu beitragen, die Menschen für die Geste zu sensibilisieren – und dafür, lieber einmal zu viel hinzuschauen, erklärt ein Sprecher der Bundepolizei.
So wie im US-Bundesstaat Kentucky, als im November 2021 eine 16-Jährige im Wagen ihres Entführers heimlich das Signal zeigte. Ein Autofahrer im Wagen dahinter bemerkte das und alarmierte die Polizei, das Mädchen konnte befreit werden. Beide kannten das Zeichen vom Social-Media-Kanal Tiktok. Und in Deutschland konnte im August 2022 in Ludwigshafen ein Täter nach einer mutmaßlichen Vergewaltigung geschnappt werden, sein Opfer hatte mit dem stillen Hilferuf auf die Situation aufmerksam gemacht.
Am Münchner Flughafen werden die Mitarbeitenden geschult und für kritische Situationen sensibilisiert
Doch wenn es um mögliche Entführungen geht, kann man sich bei der Lufthansa und den Münchner Flughafenbetreibern neben dem aktuellen an keinen einzigen Fall erinnern, in dem das heimliche Handzeichen eine Rolle gespielt hätte. Trotzdem werden die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen entsprechend geschult. Bei der Lufthansa gebe es diese Themen schon in der Ausbildung, sagt Bettina Rittberger, Sprecherin der Airline: „Da wird sehr darauf geachtet und unser Bodenpersonal ist sensibilisiert dafür.“ Auch die Mitarbeitenden der FMG werden regelmäßig geschult und verfügen zudem über stille Alarmknöpfe, um unauffällig einen Notruf an die Polizei absetzen zu können, wie die Flughafenbetreiber knapp bestätigen.
Andreas Aichele, Sprecher des Polizeipräsidiums Oberbayern-Nord, muss kurz nachdenken, ob er sich an einen Fall erinnert, bei dem der heimliche Notruf eine Rolle gespielt hat. „Keiner bei uns, zwei vielleicht in ganz Bayern überhaupt“, sagt er dann. Den Nutzen des Zeichens möchte er trotzdem nicht kleinreden. Die Polizei wolle grundsätzlich helfen – „und dafür muss sie auf eventuelle Verbrechen und Notlagen aufmerksam gemacht werden, da ist uns der Kanal egal“.
In Polizeikreisen sei das heimliche Handzeichen auch hinlänglich bekannt, versichert Aichele. Da gelte das Gleiche wie für das „Taxifahrersignal“, ein blinkendes Licht auf dem Dach eines Taxis, das im Innenraum nicht bemerkt wird: „Da weiß jeder Polizist sofort Bescheid.“ Ob das in der Bevölkerung auch so ist? Zuletzt habe es häufiger Social-Media-Reels dazu gegeben, so Aichele: „Man muss wohl noch daran arbeiten, aber es spricht sich schon herum.“
Das wünscht sich auch Silvia Niedermeier von der Opferhilfsorganisation Weißer Ring Freising. „Wir haben das Thema gerade erst intern diskutiert“, sagt sie. „Bei uns in der Organisation kennen das natürlich alle, aber bei unserer Arbeit ist es uns noch nicht begegnet.“ Dabei wäre es wichtig, das in der Bevölkerung zu verbreiten: „Je mehr das kennen, umso hilfreicher ist es.“ Der Weiße Ring hat deshalb kürzlich einen Social-Media-Post veröffentlicht, in dem er auf das Handzeichen aufmerksam macht. Weit über hundertmal ist dieser geteilt worden.
Für die Bar- und Clubszene gebe es schon seit Jahren eine andere Möglichkeit, in einer Notlage auf sich aufmerksam zu machen, ergänzt Niedermeier. Mit der Frage „Ist Luisa hier“ können sich Betroffene dabei an das Personal vor allem in Feierlocations wenden, um Hilfe zu erhalten, möglichst bevor Schlimmeres passiert. Doch auch dafür – wie für den stillen Hilferuf – müssten die gerade in der Gastronomie häufig wechselnden Mitarbeitenden immer wieder geschult und sensibilisiert werden, betont Niedermeier, das sei wichtig, gerade jetzt, wo das Oktoberfest vor der Tür stehe.
Unterstützung für diesen Verbreitungswunsch kommt von unerwarteter Seite. Seit einiger Zeit läuft in der Münchner S-Bahn ein Werbespot, der das Handzeichen erläutert. Wer dahinter eine Kampagne der Bahn oder des MVV vermutet, liegt allerdings falsch. Junge Werbetreibende der Agentur Sommer & Goßmann in Aschaffenburg hatten mit dem Zehn-Sekunden-Spot „Eine Hand spricht, wenn Worte versagen“ bei einem Nachwuchswettbewerb der Branche die entsprechende Sendezeit gewonnen – bundesweit und auch beim Fahrgastfernsehen der Münchner S-Bahn.
Das schwierige Thema Gewalt finde leider oft zu wenig Beachtung, deshalb habe man sich für das Handzeichen entschieden – „auch, weil es leider immer noch viel zu wenig bekannt ist“, erzählt Amelie Braun, eine der Gewinnerinnen aus der Agentur.
Und was ist nun die richtige Reaktion, wenn man tatsächlich einen Menschen den stillen Hilferuf signalisieren sieht? Polizeisprecher Aichele warnt davor, aktiv einzugreifen und sich damit womöglich selbst in Gefahr zu begeben. Stattdessen sollte man die Polizei informieren und dann die Situation möglichst weiter in gebührendem Abstand beobachten, bis professionelle Hilfe eintrifft. In dem aktuellen Fall am Flughafen habe man ja gesehen, dass es notwendig war, zu helfen und etwas abzuklären, sagt Aichele: „Auch wenn es keine Entführung war.“





















