Großbritannien: Nigel Farage will noch einmal triumphieren | ABC-Z

Nigel Farage liegt in den Meinungsumfragen auf Platz eins. In mehr als 100 Erhebungen führt seine Partei Reform UK inzwischen mit deutlichem Abstand vor der regierenden Labour-Partei und den konkurrierenden Konservativen. Der Aufschwung an die Spitze begann im vergangenen Mai. Da hatte Reform UK in den Kommunalwahlen aus dem Stand mehr als 40 Prozent der Sitze erobert (bei einer Wahlbeteiligung von nur 33 Prozent). Seither steht Farage quasi vor den Toren von Westminster.
Dabei hat er seinen erstaunlichsten Erfolg womöglich schon hinter sich – jene Volksabstimmung im Juni vor neun Jahren, in der ihm eine Mehrheit der Briten folgte und für den Austritt aus der Europäischen Union votierte. Der Populist verbrämte den Austritt mit zahlreichen Verheißungen und Versprechungen und konnte seinen damaligen Sieg anschließend nicht wirklich genießen – es gab keinen rechten Dank dafür und wenig Anerkennung.
Er trat kurz danach als Parteichef zurück und gründete später eine neue Partei, sie hieß erst Brexit-Partei, dann Reform UK. Aber Farage war nur am Rand des politischen Spielfelds präsent, er musste sich mit der Rolle des Kommentators begnügen.
Aus dieser Frustration speist sich wohl das wesentliche Motiv seines Comebacks. Kein Zweifel, er will noch einmal über „das Establishment“ triumphieren – also über alle, die ihn nicht für voll nehmen. Es ist ein Antrieb, den er mit seinem Freund Donald Trump gemein hat, beide sind charismatisch, beide narzisstisch.
Anders als Trump ist Farage aber kein Geschäftsmann, den sein Ego irgendwann auf ein größeres, politisches Spielfeld führte. Er ist eher ein Politiker, der gern Geschäfte macht, und mehr noch: Er ist ein Politiker, weil dieses Metier ihm die beste Bühne für Selbstdarstellung und Selbstbestätigung bietet. Farage berichtet, schon zu Schulzeiten sei anderen an ihm aufgefallen, „dass ich ziemlich keck und draufgängerisch war, ziemlich gut auf einer Bühne, ohne Angst vor Scheinwerfern, ein bisschen laut und gut darin, anderen was zu verkaufen“.
Gawain Towler, einer der wenigen politischen Weggefährten, die noch immer an Farages Seite sind, zeichnet ihn gerne als einen jungen, unbekümmerten Börsenhändler, der in den 80er Jahren, also zur Thatcher-Zeit, mit Bowlerhut und Anzug in die Londoner City stolzierte, „einen Haufen Geld verdiente“, der später aber, nachdem er in den abgewrackten Industriestädten im Norden Englands die Kehrseite von Thatchers wirtschaftlicher Liberalisierung gesehen habe, zum Anwalt der Globalisierungsopfer geworden sei.
Seine Begabung: Der (häufig böse) Witz
Aber Towlers Robin-Hood-Saga passt am Ende nicht recht auf Farage und erst recht nicht auf seine Partei, die von Unternehmens-Millionären wie Richard Tice oder Zia Yusuf geführt wird. Farage ist auch kein Volkstribun, der aus einfachen Verhältnissen stammte, sondern ein wohlhabendes Nachkriegskind, Jahrgang 1964, der keine unbeschwerte Kindheit hatte (die Eltern trennten sich, als er fünf Jahre alt war), der aber seine Schulzeit auf einer der privaten Elite-Anstalten (Dulwich College) in London verbrachte. Er engagierte sich früh bei den Konservativen, wechselte dann zur „UK Independence Party“, kurz UKIP, für die er 1999 erstmals ins Europaparlament zog.
Dort zeigte sich eine weitere Begabung: sein (häufig böser) Witz. Farage ist eher Hofnarr als Clown, also jemand, der mit bissigen Bemerkungen Sachverhalte oder Personen bloßstellen kann. Dem früheren EU-Ratspräsidenten Herman Van Rompuy sagte er nach, er habe „das Charisma eines feuchten Putzlappens und das Auftreten eines niederen Bankangestellten“.
Und in seiner Abschiedsrede – nach dem Brexit-Votum 2016 – hielt er seinen Parlamentarier-Kollegen im Europaparlament vor: „Ich weiß, dass praktisch keiner von Ihnen jemals in seinem Leben richtig gearbeitet hat oder geschäftlich oder im Handel tätig war oder überhaupt mal einen Arbeitsplatz geschaffen hat.“

Während Farage in Brüssel Ironie und Bosheit versprühte, versuchte er doch immer, in Westminster Fuß zu fassen. Sieben Mal kandidierte er vergeblich für einen Sitz im Unterhaus, einmal hätte es ihn beinahe das Leben gekostet. Das war 2010, da trat er in Buckinghamshire gegen den „Speaker“ John Bercow an, den Parlamentspräsidenten, der nach dem ungeschriebenen Comment eigentlich ohne Herausforderer in seinem Mandat bestätigt wird.
Farage aber witterte eine Chance gegen den umstrittenen Bercow. Am Morgen des Wahltags flog er als Ko-Pilot in einem zweisitzigen Kleinflugzeug über den Wahlkreis. Das Werbebanner „Wählt UKIP“ verhedderte sich in der Maschine, Farage stürzte ab. Er überlebte mit Knochenbrüchen und anderen ernsten Verletzungen.
Heute prägt der Flugzeugabsturz seinen Nimbus. „Wir haben einen Führer, der alle Widrigkeiten überwindet“, pries Zia Yusuf, das wichtigste Vorstandsmitglied von Reform UK, jüngst auf dem Parteitag seinen Chef und stellte das Flugzeugunglück an den Anfang einer Aufzählung.
Vertrauen in die eigene Unverwundbarkeit
Farage habe den Absturz überlebt, er habe den Brexit herbeigeführt, er habe fünf Sitze bei der jüngsten Unterhauswahl erobert – deswegen werde er es auch schaffen, der nächste Premierminister des Vereinigten Königreiches zu werden. Es klingt etwas Messianisches in dieser Beweisführung an, eine Verheißung, die auch Farage selbst gelegentlich zum Klingen bringt. Der versprach seinen Anhängern von der Parteitagsbühne – nachdem ein goldfarben sprühendes Saalfeuerwerk seinen Auftritt eingeleitet hatte –, er werde für den Erfolg von Reform UK „absolut alles geben, was ich habe“.
Niemand sorge sich mehr um den Zustand des Landes, „als ich es tue“. Und: „Ich bin letztes Jahr zurückgekommen, zurück aus dem Ruhestand, um eine Bewegung anzuführen, die unser Land zurückgewinnt. Ich glaube, wir sind auf dem Weg dahin.“
Die Siegeszuversicht leitet sich ab aus dem Vertrauen in die eigene Unverwundbarkeit: Er wisse schon, was Labour und die Konservativen gegen ihn ins Feld führten, sagte Farage kürzlich während eines Empfangs in Washington: „Die werden sagen, dass ich ein Trinker bin. Sie werden sagen, dass ich ein Raucher bin, sie werden sagen, dass ich ein Spieler bin, sie werden sagen, dass ich ein Frauenheld bin. Das Problem ist, das stimmt ja alles. Also – im Ernst – womit können die mich treffen?“ In diesem schicksalhaft verankerten Führungsanspruch, verbrämt mit allerhand Auserwähltheits-Hinweisen, zeigt sich abermals eine Parallele zu Trump.
Dabei achtet Farage aufmerksam darauf, dass Reform UK sich nicht den Vorwurf einhandelt, rechtsextremistisch zu sein. Im Januar riskierte er lieber Ärger mit Elon Musk – den er kurz zuvor noch als möglichen Spender einer Hundert-Millionen-Dollar-Gabe an Reform UK ins Spiel gebracht hatte –, als dessen Forderung nachzugeben, den Rechtsextremisten Tommy Robinson in seine Partei aufzunehmen. „Den können wir nicht gebrauchen“, beschied Farage knapp, woraufhin Musk zweifelte, ob Reform noch den richtigen Anführer habe, und anfing, den Reform-Abgeordneten Rupert Lowe für dessen Ansichten und Führungsqualitäten zu loben.
Lowe musste die Partei inzwischen verlassen. Er sitzt nach einem Zerwürfnis mit Farage als Unabhängiger im Unterhaus und rief seinem früheren Anführer hinterher, der führe keine Partei, sondern „einen Kult“, und köpfe jede Blume, die zu rasch wachse.
Vor einem Dreivierteljahr rief der Reform-UK-Funktionär Ben Habib Farage bittere Vorwürfe nach, nachdem dieser ihn als stellvertretenden Parteichef abgesetzt hatte, weil er den Posten lieber an Richard Tice weiterschieben wollte, einen der Finanziers der Organisation, der überdies eines ihrer Unterhausmandate hält. Die Hemdsärmeligkeit, mit der Farage diese Personalentscheidungen durchsetzt, demonstriert deutlich, wie sehr er die Partei im Griff hat.
Vages politisches Programm
Man kann es auch aus ihrer Satzung ableiten. Zwar ist Reform UK nicht länger eine eingetragene Firma (mit dem Mehrheitsgesellschafter Farage), sondern eine gemeinnützige Organisation, doch wird deren Vorstand weiterhin überwiegend von Farage berufen. Nur drei Vorstandsmitglieder werden von der Parteibasis gewählt. Die Amtszeit des Parteiführers beträgt fünf Jahre, und wenn nach deren Ablauf kein Gegenkandidat auftaucht, kann sie per Vorstandsbeschluss immer wieder um fünf Jahre verlängert werden.
Das politische Programm Farages bleibt unterdessen vage. Es ist eine reflexhafte Mischung aus Ablehnung und Abwehr: gegen Einwanderer, gegen Klimaschutz, gegen alle Widrigkeiten der modernen Welt. Der Reform-Führer verheißt vor allem eine Rückkehr der Vergangenheit, einschließlich der Wiederinbetriebnahme stillgelegter Hochöfen und Kohlebergwerke. Neu in seinem Katalog politischer Aussichten ist allenfalls, dass er London zum führenden Finanzplatz von Kryptowährungen machen will.

Mittlerweile hat Farage eine andere Firma gegründet, die ihm beim Steuersparen behilflich sein soll. Er ist in den vergangenen zwölf Monaten zum Parlamentarier mit dem höchsten Einkommen aufgestiegen – vor allem dank der Pflege eines weiteren Talents, des eines unterhaltsamen Radio- und Fernsehmoderators. Seine ersten diesbezüglichen Sporen erntete er vor einem Jahrzehnt mit Auftritten bei dem russischen Staatssender Russia Today und dem britischen Privat-Radio LBC, später beschäftigten ihn Fox News und der „Daily Telegraph“; mittlerweile ist er vorwiegend bei GB News aktiv, dem Fernseh-Sprachrohr des Hedgefonds-Managers Paul Marshall, der als einer der wichtigsten Finanziers der neuen Rechten in Großbritannien gilt.
GB News zahlte Farage im letzten Jahreszeitraum fast das Vierfache seiner Abgeordnetendiät, die bei umgerechnet rund 110.000 Euro liegt. Er leitet diese Einkünfte an sein Unternehmen weiter, das den Firmennamen „Der Stachel im Fleisch Ltd.“ trägt, und vermeidet auf diese Weise die Zahlung hoher Einkommensteuern. Auch beim Erwerb eines Wohnsitzes in seinem Wahlkreis Clacton-on-Sea am nördlichen Rand der Themsemündung ging Farage mit großem Sparsinn vor: Er ließ ihn von seiner gegenwärtigen Lebensgefährtin Laure Ferrari erwerben – um die Zahlung der höheren Rate von Grunderwerbsteuern zu vermeiden, die auf den Kauf eines Zweitwohnsitzes fällig geworden wäre.
Eher Midas als Messias?
Der zweithöchste Einnahmeposten in Farages Jahresbilanz stammt aus Vergütungen von umgerechnet mehr als 300.000 Euro für seine Tätigkeit als Markenbotschafter einer Goldbarren-Vertriebsfirma. In dieser Aufgabe konnte er seine Fachkenntnisse als einstiger Händler an der Metallbörse der Londoner City mit den Prophezeiungen des akuten britischen Niedergangs verknüpfen und in eine Empfehlung zum Kauf von Barrengold einfließen lassen; in einem Videoclip der Handelsfirma sagt Farage: „Edelmetalle haben mich mein ganzes Leben lang angezogen.“
So ist er am Ende vielleicht doch eher Midas als Messias? Parteimitglieder und Parteitagsgäste der Reform-UK-Jahreskonferenz in Birmingham wurden am Eingang der Tagungshalle kürzlich mit kleinen Goldstücken willkommen geheißen, die Farages Goldhändler dort austeilen ließ. Sie waren aber bloß aus Stanniolpapier, innendrin steckte Schokolade.