Sigrid Emmenegger: Für Kampagnen ungeeignet | ABC-Z

Wer ist Doktor Sigrid Emmenegger? Als am Mittwoch der Name der neuen SPD-Kandidatin bekannt wurde,
mussten auch Rechtsexperten erst mal googeln. Richterin am
Bundesverwaltungsgericht in Leipzig, 48 Jahre, politisch: nicht besonders
exponiert. Seit 18 Jahren ist sie Richterin, in Leipzig ist sie zuständig für
Energieleitungen, also komplexe Infrastrukturprojekte. Strommasten, Erdkabel.
Technisch wie juristisch anspruchsvoll.
Emmenegger ist die neue Kandidatin der SPD für einen
Richterposten am Bundesverfassungsgericht. Ihre Nominierung ist auf den ersten
Blick eine Rückkehr zur Normalität, denn die Richter und Richterkandidaten des
Bundesverfassungsgerichts sind einer breiteren Öffentlichkeit in der Regel
unbekannt. Und auch das Fachpublikum kennt die Personen meist nicht näher,
bevor sie vorgeschlagen werden.
Ursprünglich galt all das auch für Frauke Brosius-Gersdorf, die vorige Kandidatin der SPD. Nach einer Kampagne gegen ihre Person, fehlender Unterstützung der Unionsfraktion und einer dramatischen, weil in letzter Minute
abgesetzten Richterwahl im Bundestag hatte Brosius-Gersdorf ihre Kandidatur
schließlich zurückgezogen. Als Rechtsprofessorin, die sich mit
gesellschaftspolitisch umstrittenen Themen wie Schwangerschaftsabbruch oder der
Corona-Impfpolitik beschäftigt hatte, bot Brosius-Gersdorf politisch eine erheblich
größere Angriffsfläche. Auch Emmenegger, die neue Kandidatin, gilt als
politisch progressiv. Nur hat sie sich in ihrer Karriere bisher juristisch mehr mit technischer Materie beschäftigt als mit
gesellschaftlichen Streitfragen.
In der Auswahl Emmeneggers steckt daher eine gewisse
Zurückhaltung, wenn nicht Sensibilität. Das galt schon für den Auswahlprozess:
Schon vor drei Wochen hatte SPD-Fraktionschef Matthias Miersch öffentlich
erklärt, es gebe einen Namen. Doch der drang diesmal aus dem kleinen Kreis der
Eingeweihten nicht heraus. Am Mittwoch informierten die beiden
Parlamentarischen Geschäftsführer von SPD und Union, Dirk Wiese und Steffen
Bilger, in einem gemeinsamen Schreiben, das der ZEIT vorliegt, ihre Fraktionen.
Erst dann erreichte der Vorschlag auch die Öffentlichkeit. Nur allen recht
machen kann man es offenbar nicht: Während SPD und Union ihre enge Abstimmung
nach dem ersten Wahldesaster betonen, beschweren sich nun die Grünen, nicht ausreichend in die Entscheidung einbezogen worden zu sein.
Promotion über “Gesetzgebungskunst”
Eng einbezogen hat man auch die Linkspartei nicht: Deren
Rechtspolitikerin und Mitglied im Richterwahlausschuss Clara Bünger sagte der FAZ erst mal nur, man werde sich “mit der Kandidatur auseinandersetzen
und innerhalb der Fraktion darüber sprechen, wie sich das gehört”.
Emmenegger gilt als Richterin wie auch in der
Rechtswissenschaft als fachlich bestens qualifiziert. Ihre Doktorarbeit
schrieb sie über “Gesetzgebungskunst” – ein Buch, in dem sie die
wissenschaftliche Diskussion um 1900 darüber nachzeichnet, was gute
Gesetzgebung ausmacht. Das Buch wurde im Erscheinungsjahr 2006 zu einem der
“Juristischen Bücher des Jahres” ernannt, eine besondere Auszeichnung unter
Rechtswissenschaftlern.
Ihr Doktorvater ist der ehemalige Präsident des
Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle. Damit ist sie schon die zweite
Voßkuhle-Schülerin, die nun zur Bundesverfassungsrichterin gewählt werden soll:
Auch die andere SPD-Kandidatin Ann-Katrin Kaufhold, Staatsrechtslehrerin an der
LMU in München, gehört dazu. Ähnlich wie Kaufhold gilt Emmenegger unter
SPD-Rechtspolitikern als gut vernetzt. Mit dem Präsidenten des
Oberverwaltungsgerichts und des Landesverfassungsgerichts Lars Brocker, der
selbst schon mal als SPD-Kandidat für das Bundesverfassungsgericht im Gespräch war, hat Emmenegger gemeinsam publiziert.
Werden die Urteile nun technischer?
Das höchste deutsche Gericht ist der 48-Jährigen schon vertraut.
Sie war dort bereits vier Jahre lang wissenschaftliche Mitarbeiterin. Dieser
Zirkel von handverlesenen und juristisch in der Regel herausragend
qualifizierten Juristen ist ein
wichtiges Netzwerk in der Justiz und Rechtswissenschaft. Ihr
wissenschaftliches Netzwerk reicht bis ins Private: Emmeneggers Ehemann ist
Verwaltungsrechtsprofessor.
Traditionell haben Rechtswissenschaftler das
Bundesverfassungsgericht entscheidend geprägt. Rechtstheoretiker wie
Ernst-Wolfgang Böckenförde haben komplizierte verfassungspolitische Fragen wie
das Demokratieprinzip juristisch handhabbar gemacht, indem sie eine juristische
Sprache für sie gefunden haben – in dem Fall das Denken in
“Legitimationsketten”. Damit haben sie der Politik gleichzeitig einen Rahmen
gesetzt, in dem das Gericht großen Einfluss ausüben konnte.
Emmenegger ist Berufsrichterin und verstärkt damit einen leichten
Trend der letzten Jahre: Ans Bundesverfassungsgericht gelangten zuletzt im
Verhältnis zu Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern etwas mehr Praktiker.
Doch auch jenseits der Zusammensetzung wird spannend sein, wie die neuen
Richterinnen, wenn sie denn gewählt werden, das Bundesverfassungsgericht prägen
werden. Werden die Urteile technischer, oder – weil sich das
gesellschaftliche Umfeld ändert – weniger politisch? Erkennbar ist bereits,
wie viel schwerer es für Rechtswissenschaftler in diesem politischen Umfeld
geworden ist, an das Gericht zu gelangen. Sie haben vorher in der Regel zu
einem breiteren Themenspektrum publiziert und bieten damit eine größere
Angriffsfläche. Das gilt erst recht für
eine Staatsrechtswissenschaft, die auf gesellschaftliche Polarisierung
mit einem Trend zu deutlich mehr Grundlagenforschung reagiert. Und sich damit
auch vermehrt gesellschaftspolitischen Fragen zuwendet.
Die Union braucht erneut die Unterstützung der Linken
Wenn es nach der SPD geht, soll die Wahl von Emmenegger noch im
September stattfinden, gleichzeitig mit den beiden bisher nominierten
Kandidaten: der Staatsrechtsprofessorin Ann-Katrin Kaufhold und dem Richter am
Bundesarbeitsgericht Günter Spinner.
Bis dahin gibt es noch allerlei Details zu klären, die bereits vor
der letzten Richterwahl noch offen waren, dann aber von der Kampagne gegen
Brosius-Gersdorf überlagert wurden. Beispielsweise, wie die
Union mit ihrem Unvereinbarkeitsbeschluss bezüglich der Linkspartei umgehen will. Die Linke hatte beim vergangenen Mal ein Entgegenkommen der
Union gefordert, wenn die Union ihre Stimmen für die Richterwahl haben wolle.
Etwa bei der Wahl von Linken-Fraktionschefin Reichinnek für das
Parlamentarische Kontrollgremium. Als das ausblieb,
kündigte die Linke an, nur die SPD-Richterkandidatinnen, nicht aber den
Unionskandidaten mitwählen zu wollen.
Die Richterkandidaten werden vom Bundestagsplenum in geheimer Wahl
und mit Zweidrittelmehrheit gewählt. Um nicht auf Stimmen der AfD angewiesen zu
sein, bräuchte die Union auch für ihren Kandidaten Unterstützung aus der
Linkspartei.
Wer dann am Ende nicht nur zur Richterin, sondern auch zur
Vizepräsidentin des Bundesverfassungsgerichts gewählt wird – Emmenegger oder
Kaufhold –, mag zumindest in den nächsten Wochen nur ein kleines Problem sein,
am Ende wird dies der Bundesrat entscheiden. Aber: Hier geht es um eine
wichtige Machtposition: 2030, wenn der jetzige
Bundesverfassungsgerichtspräsident Stephan Harbarth aus dem Amt scheidet, fällt
der Vorsitz der neuen Vizepräsidentin zu. Nach Jutta Limbach wäre es erst die
zweite Frau an der Spitze des obersten Gerichts.