Informationen ignorieren: Weghören zum Wohl der Demokratie – Wissen | ABC-Z

SZ: Informationen im Namen der Rettung der Demokratie zu ignorieren, klingt unverantwortlich. Schließlich sollen Bürger gut informiert sein, um an politischen Prozessen partizipieren zu können.
Lewandowsky: Ja, wer zu viel ignoriert, läuft Gefahr, am Ende schlecht informiert zu sein. Umgekehrt gilt aber auch: Wer versucht, alles aufzunehmen, versteht oft weniger, weil schlicht die Zeit fehlt, Dinge gründlich zu durchdringen. Das ist das Dilemma.
Gibt es einen Weg heraus aus diesem Problem?
Man muss eine Entscheidung treffen: Will man sich auf das Wesentliche konzentrieren und es wirklich begreifen? Dann muss man vieles ausblenden. Kein Mensch ist in der Lage, die Informationsflut komplett zu bewältigen. Selbst in meinem eigenen Fachgebiet kann ich unmöglich alle relevanten Studien lesen. Ich muss auswählen.
Die große Frage lautet also, welche Informationen man ausblendet.
Ich vergleiche das gern mit der Nahrungssuche von Tieren: Sie folgen einer Spur, die vielversprechend wirkt – etwa einem Geruch – und entscheiden dann, ob sich die Suche lohnt. Mit Informationen ist es ähnlich. Wir bewegen uns durch eine riesige Landschaft, und wenn uns etwas interessant erscheint, können wir entscheiden: übergehen oder vertiefen. Kritisches Ignorieren bedeutet, bewusst zu entscheiden, was wir uns näher ansehen.
Wie kann ich feststellen, welche Informationen relevant sind?
Es gibt Kriterien, die seit Jahrhunderten diskutiert werden: Logik, Widerspruchsfreiheit, innere Kohärenz. Wenn jemand sich permanent widerspricht, lohnt es sich nicht, weiterzulesen.
Das ist aber oft schwer zu erkennen, ohne die Informationen zu konsumieren.
Deshalb haben wir in unserer Arbeit eine Checkliste formuliert. Etwa die Wortwahl: Wenn schon die Überschrift Empörung schürt oder bewusst polarisiert, ist das für mich ein Warnsignal. Dasselbe gilt für reißerische Schlagzeilen, klassisches Clickbait. Wer sich auf „gesunden Menschenverstand“ beruft, liefert meist kein gutes Argument. Wenn dagegen jemand mit Daten und Belegen arbeitet, höre ich zu, selbst wenn ich anderer Meinung bin.
Wenn ich diese Kriterien anlege, müsste ich zum Beispiel auch Texte aus der New York Times ignorieren. Auch dort findet man Empörung und Polarisierung.
Nein, das wäre ein Fehlurteil. Ich habe selbst große Sprachanalysen der New York Times gemacht. Natürlich gibt es dort gelegentlich emotionale Zuspitzungen, aber das ist überhaupt nicht vergleichbar mit Boulevardblättern wie der Daily Mail oder mit Fox News. Entscheidend sind die sprachlichen Muster: Polarisierende, empörungsgetriebene Sprache ist immer ein Warnsignal, egal, ob von links oder rechts.
Am Ende buhlen alle um Aufmerksamkeit.
Genau das ist der Punkt. Der Wettbewerb zwingt dazu, immer noch lauter, noch aufregender zu sein als die Konkurrenz. Das ist ein strukturelles Problem der gesamten Medienlandschaft.
Lässt sich das lösen?
Ich habe schon eine Idee, aber sie ist wohl kaum umsetzbar. Eigentlich müsste man Plattformen wie Facebook verbieten, einzelne Artikel isoliert zu verbreiten. Denn so entscheiden Nutzer nicht mehr, ob sie eine Zeitung lesen, sondern nur, ob sie einen bestimmten Text anklicken. Das zwingt Medien, jede Geschichte so zu gestalten, dass sie sofort Aufmerksamkeit bekommt. Früher kaufte man eine Zeitung wegen einzelner Themen – und bekam automatisch auch andere Inhalte dazu.
Kann kritisches Ignorieren überhaupt funktionieren, wenn selbst Qualitätsmedien unter Druck stehen, ihre Inhalte emotional zuzuspitzen?
Ja, gerade dann. Stellen Sie sich vor, 20 Millionen Menschen würden konsequent auf reißerische Inhalte verzichten. Plötzlich hätten Medien einen Anreiz, Qualität zu liefern, weil Empörung nicht mehr klickt. Realistisch ist das natürlich nicht. Aber schon wenn ein paar Tausend Menschen beginnen, bewusst zu selektieren, kann das ein Signal setzen.
Wie überzeugt man Menschen, konsequent wegzuschauen?
Man überzeugt nicht die Masse, sondern Multiplikatoren. Journalisten zum Beispiel. Die können die Idee weitertragen. Bildung ist wichtig. Kinder sollten früh lernen, nicht alles in sozialen Medien ernst zu nehmen. So wie Eltern irgendwann verstanden haben, ihre Kinder nicht stundenlang vor den Fernseher zu setzen. Solche Korrekturen brauchen Zeit.
Also wirkt kritisches Ignorieren nur auf individueller Ebene, nicht gesamtgesellschaftlich?
Im demokratischen Kontext, ja. Ich kann keine Pflichtkurse verordnen. Aber ich kann Anstöße geben. Zugleich darf man nicht vergessen: Individuelles Verhalten allein reicht nie aus. Wir haben ein strukturelles Problem – mit den Geschäftsmodellen der Plattformen, fehlender Regulierung und geopolitischen Rahmenbedingungen. Deshalb braucht es beides: aufgeklärte Individuen und systemische Veränderungen.
Warum schwächt Informationsüberfluss die Demokratie?
Weil er unsere Aufmerksamkeitsspanne verkürzt. Wir sehen das in großen Datenauswertungen. Trends in Google-Suchen oder Hashtags in sozialen Medien verschwinden heute viel schneller aus dem öffentlichen Interesse als noch vor zehn Jahren. Menschen springen innerhalb von Stunden oder Tagen weiter zum nächsten Thema.
Und das ist ein Problem?
Für Unterhaltungsthemen vielleicht nicht, aber in der Politik schon. Wenn ein Politiker lügt, und die Öffentlichkeit hat sich zehn Minuten später schon dem nächsten Aufreger zugewandt, dann fehlt die Möglichkeit, ihn zur Rechenschaft zu ziehen.
Also reicht bloße Informationsfülle, um das System aus dem Gleichgewicht zu bringen?
Man muss nichts weiter tun, als die Öffentlichkeit mit Informationen zu fluten. Wenn permanent neue Behauptungen in Umlauf sind, verliert man die Übersicht. Korrektur ist dann kaum noch möglich. Das allein schwächt demokratische Kontrolle.
Besteht nicht die Gefahr, dass kritisches Ignorieren die Meinungsfreiheit und den Markt der Ideen einschränkt?
Ich sehe da keinen Widerspruch. Der Markt der Ideen ist etwas anderes als der Markt des Clickbaits. Wenn man reißerische Inhalte ignoriert, schafft man erst den Raum für gute Ideen. Bots, Trolle, von Algorithmen gesteuerte Sensationen verzerren die Debatte.
Clickbait ist dummerweise meist unterhaltsamer als seriöse Information.
Es ist wie mit Junk Food: Lecker, aber schlecht für uns. Brokkoli oder Sport sind gut für uns, aber schwerer zu konsumieren. Genauso ist es mit Informationen.
Medien und Politik konkurrieren also mit diesem Unterhaltungsdruck?
Genau. Politiker reagieren fast nur noch auf extreme Ränder. In Deutschland diskutieren alle über die AfD, in Großbritannien über Nigel Farage. Die eigentlichen Inhalte und Projekte verschwinden.
Wie kann man mit intelligenten, konstruktiven Ideen durchdringen?
Das ist extrem schwierig. Besonders in den USA und Großbritannien ist die Dynamik geprägt von negativer Parteilichkeit: Leute hassen die jeweils regierende Partei und wechseln Loyalitäten schneller als früher. Egal, wer an der Macht ist, die Stimmung bleibt negativ.