Umstrittene Star-Sopranistin: Empörung über Netrebko-Auftritt in London | ABC-Z

Anna Netrebko tritt von heute an in der Londoner Royal Opera auf – britische und ukrainische Kulturschaffende sind empört. Sie fordern, die Konzerte abzusagen. Ihr Vorwurf: Die Star-Sopranistin sei Teil einer Kreml-Propaganda.
Ihre Botschaften sind klar und kompromisslos: “Nein zu Putins Fangirl”, steht auf einem Plakat. Jemand anderes hält Fotos von ausgezehrten ukrainischen Soldaten, die aus russischer Gefangenschaft zurückgekehrt sind, in die Höhe.
Schon vor der großen Premiere von Anna Netrebko am Donnerstag setzen knapp 100 Demonstrierende vor der Royal Opera im Londoner Stadtteil Covent Garden ein Zeichen. Viele haben die ukrainische Flagge dabei, haben ukrainische Wurzeln oder sind kürzlich von dort geflohen.
Vor den Stufen des Operngebäudes stimmen sie ukrainische Lieder an, zum Beispiel die Nationalhymne mit ihren Anfangszeilen “Noch ist die Ukraine nicht gestorben” oder das patriotische Lied “Rote Kalina”, das nach der Annexion der Krim von den russischen Behörden als nationalistisch eingestuft und auf eine Art schwarze Liste gestellt wurde.
Sie alle hier sagen: Dass Kunst und Kultur unpolitisch seien, das sei in diesem Fall eine Illusion. “Und ausgerechnet ein so politisches Werk wie Toska – das macht es noch schlimmer”, sagt Protestteilnehmer Mykisla Maleikyi. “Scarpia, der Hauptbösewicht, ist Putin sehr ähnlich, er bringt seine Gegner und Andersdenkende zum Schweigen.”
Fordern, dass die Konzerte von Anna Netrebko abgesetzt werden: Demonstranten vor dem Londoner Royal Opera House.
“Töricht, Netrebko einzuladen”
Auch Briten wie Thomas Brayford und John Swinney sind zu diesem Protest gekommen. “Es ist töricht von der Royal Opera, Netrebko einzuladen – das trägt dazu bei, diesen Krieg zu normalisieren, genau wie es die russische Propaganda will”, sagt Swinney.
Neben ihm erzählt Brayford, dass er eigentlich gern in die Royal Opera gehe. “Es geht nicht darum, russische Kultur insgesamt zu canceln. Es geht hier um Netrebko und ihre enge Beziehung zu Putin. Und Russland hat Kultur immer wieder als Waffe genutzt.”
Jahrhundertstimme, technisch brillant
Die Stimme von Anna Netrebko sei eine Jahrhundertstimme, heißt es oft – technisch brillant und zutiefst berührend zugleich. Geboren wurde sie 1971 in der Stadt Krasnodar, ihren Durchbruch hatte sie Anfang der 2000er-Jahre und galt bald als Operndiva einer neuen Generation mit Auftritten auf allen großen Bühnen der Welt.
Schnell wurde sie vom Kreml auch als Aushängeschild russischer Kulturpolitik eingesetzt, 2008 erhielt sie von Präsident Wladimir Putin persönlich die Auszeichnung als “Volkskünstlerin Russlands”.
Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 sagten zahlreiche Opernhäuser geplante Auftritte ab, auch die Londoner Royal Opera. Netrebko veröffentlichte wenig später eine Erklärung und zog sich für einige Monate zurück. Sie sei gegen den Krieg und kein Parteimitglied.
In ihrer russischen Heimat wurde sie dafür scharf kritisiert. Vielen im Westen wiederum war und ist ihre Distanzierung zu Putin und seinem Vorgehen zu vage. Einige Monate nach Kriegsbeginn trat sie wieder in Salzburg, Berlin oder Paris auf.
Die Metropolitan Opera, kurz Met, in New York dagegen bleibt hart und Netrebko zog gegen diese Entscheidung vor Gericht – wegen “Verleumdung, Vertragsbruch und Diskriminierung aufgrund nationaler Herkunft”.
Eine US-Bundesrichterin ließ die Klage nur in Teilen zu. Netrebko argumentiert, dass sie auch wegen ihres Geschlechts diskriminiert wurde: Männliche russische Kollegen wären von der MET anders behandelt worden. Eine Entscheidung steht noch aus.
Auch Ex-Kulturminister unterzeichnet offenen Brief
Dass Netrebko nun wieder in London auftreten dürfe, sei ein Fehler, sagt der ehemalige britische Kulturminister John Whittingdale, der derzeit für die konservative Opposition im Auswärtigen Ausschuss des britischen Parlaments sitzt:
Es ist entsetzlich, mit welcher andauernden Brutalität Russland gegen die Ukraine vorgeht. Wir waren uns lange einig: Man muss Russland klar machen, dass wir nicht weitermachen, als wäre nichts. Und das heißt eben auch: Wir dürfen Russinnen und Russen, die zuvor ihre Unterstützung für Putin geäußert haben, nicht einfach auf Bühnen wie der Royal Opera auftreten lassen.
Whittingdale ist Mitunterzeichner eines öffentlichen Briefes, in dem mehr als 50 ukrainische Schriftsteller und Künstler sowie britische und neuseeländische Politiker von der Royal Opera verlangen, die Auftritte Netrebkos zu streichen. Sie sei ein “langjähriges Symbol der kulturellen Propaganda für ein Regime, das für schwere Kriegsverbrechen verantwortlich ist”, heißt es in dem Brief.
Whittingdale sagt, er glaube nicht mehr daran, dass die Auftritte abgesagt werden. “Ich habe den Leiter der Royal Opera aber bei einem persönlichen Treffen aufgefordert, auf Netrebko einzuwirken, dass sie sich endlich deutlich von Putin distanzieren muss.” In einem autoritären Regime sei das nie einfach, aber andere Kulturschaffende aus Russland hätten genau das gemacht.
Royal Opera House und Sängerin schweigen
Die Londoner Royal Opera wollte sich auf Anfrage der ARD nicht zu den geplanten Netrebko-Auftritten äußern. Anna Netrebko selbst gibt keine Interviews und Stellungnahmen zum Thema und derzeit sieht es nicht danach aus, dass sie vor der Premiere eine solche Distanzierung plant.
In vorherigen Äußerungen betonte sie: Dass sie sich 2014 nach der Annexion der Krim mit der Noworossija-Flagge gezeigt habe, die für die russische Annexionspolitik steht und für Russlands Großmachtansprüche jenseits der Grenzen der Ukraine, sei ein Missverständnis gewesen. Sie habe nicht gewusst, wofür die Flagge stehe.
Ihr Engagement in London geht wesentlich auf den neuen Musikdirektor der Royal Opera, Jakub Hrusa, zurück. Er argumentierte: “Die Royal Opera sollte mit den besten Sängerinnen und Sängern verbunden sein, und dazu gehört sie.”
Opernhaus auch wegen Gaza in der Kritik
Die Debatte um Netrebko ist nicht die einzige aktuelle politische Debatte rund um das Londoner Opernhaus. Anfang des Monats verwarf die Royal Opera den Plan, eine Tosca-Inszenierung nach Tel Aviv zu bringen – offiziell wegen Sicherheitsbedenken.
Zuvor hatten etwa 200 Mitglieder der Royal Opera einen offenen Brief unterzeichnet, in dem sie die Haltung des Hauses zum Gaza-Krieg kritisierten. Mitte Juli musste Operndirektor Oliver Mears sogar selbst auf die Bühne treten, um einem Ensemblemitglied bei einem Auftritt von Il Trovatore eine Palästina-Flagge aus der Hand zu nehmen – was mit nur mäßigem Erfolg gelang.
Die Debatte um Netrebko wird mit der Premiere am Donnerstagabend sicher in die nächste Runde gehen. Ihre Gegner haben erneut zu Protesten aufgerufen. Eine von denen, die wieder kommen will, ist die in London lebende Ukrainerin Marta Mulyok: “Der Vertrag mit Netrebko ist mit Blut unterschrieben. Ukrainische Kinder sind tapferer als die Royal Opera.” Botschaften wie diese sollen bei den Besucherinnen und Besuchern der Premiere ankommen. Alle Londoner Vorstellungen mit Netrebko sind längst ausverkauft.