Ihme-Zentrum in Hannover: Niedergang eines Ausnahmebaus | ABC-Z

Das Angebot klingt zu schön, um wahr zu sein. Mitten in Hannover ist eine „exklusive Maisonette mit Glasbalkon und zwei Dachterrassen“ zu haben, 130 Quadratmeter groß, für 199.000 Euro. Ein Schnäppchen im Vergleich zu Wohnungen vergleichbarer Güte. In der niedersächsischen Landeshauptstadt kostet der Quadratmeter Wohnfläche normalerweise mindestens das Doppelte. Es ist nicht die einzige Wohnung mit großzügigem Balkon und toller Aussicht, die auf dem Portal Immoscout zu einem überraschend günstigen Preis steht.
Was die Annoncen allesamt verschweigen, sind die erheblichen Risiken, die mit einem Kauf verbunden sind. Die Wohnungen liegen nämlich im Ihme-Zentrum, jenem Betonkoloss am Ufer des namensgebenden Flusses westlich der Innenstadt. Als die Multifunktionsimmobilie von der Größe einer halben Vatikanstadt in den frühen Siebzigern entstand, war sie eine architektonische Ausnahmeerscheinung. Anlässlich der Grundsteinlegung im Jahr 1971 war von „Europas bedeutendstem Stadtmitteprojekt“ und dem „größten gegossenen Betonfundament“ des Kontinents die Rede.
Doch die Begeisterung für den damals hochmodernen Komplex mit Wohnungen, Büros, Läden, Sauna und Schwimmbad verflog rasch. Der gigantische Bau war nicht das erhoffte, pulsierende Zentrum. Zwar fanden die Eigentumswohnungen großen Anklang, doch die Gewerbeflächen verloren zusehends Mieter. Seit zwanzig Jahren stehen im Ihme-Zentrum 60.000 Quadratmeter Büro- und Ladenflächen leer. Anders als das vergleichbare Barbican Centre in London, das sich von einem kontroversen Projekt zu einem begehrten und geschützten Wahrzeichen entwickelt hat, verkommt in Hannover das einstige Prestigeobjekt. Das hat auch mit den Besitzverhältnissen zu tun.
Die sind so ungewöhnlich wie der Bau selbst. Im Ihme-Zentrum bilden die Eigentümer der Wohnungen und die der übrigen Flächen eine Gemeinschaft. Im Jahr 2019 hatte der Unternehmer Lars Windhorst 83 Prozent des Eigentums erworben. Wie zahlreiche andere Projekte des von Kanzler Helmut Kohl einst als Wunderkind der deutschen Wirtschaft und später wegen Untreue verurteilten Finanzjongleurs Windhorst schlitterte allerdings auch dessen „Projekt Ihme-Zentrum GmbH“ (PIZ) vier Jahre später in die Insolvenz.
„Wir haben uns damals in diese Wohnung verliebt.“
ULRICH STAMM
Der Blick über den Ihmepark macht die Wohnungen bis heute für viele Bewohner akttraktiv. Ansonsten ist die Aussicht trübe.
Augenzeugen erinnern sich, wie Windhorst im Jahr 2019 braun gebrannt und mitsamt seiner Entourage nach Hannover kam und im Rathaus verkündete, das Ihme-Zentrum mache nicht einmal fünf Prozent seiner geschäftlichen Aktivitäten aus. Der Investor erzählte damals großspurig, er könne sich dem Gebäude „jetzt einen halben Tag und vielleicht noch mal ein paar halbe Tage“ widmen, aber mehr Zeit habe er für dieses Projekt nicht. Tatsächlich kümmerte er sich kaum um eine Verbesserung der Immobilie, und mit dem Ihme-Zentrum ging es weiter steil bergab.
Die Rechnung dafür zahlen nun Eigentümer wie Ulrich Stamm. Der Musiker listet die monatlichen Kosten seiner Wohnung auf: 650 Euro Hausgeld plus 3,31 Euro Umlage pro Quadratmeter wegen der Windhorst-Pleite plus 89 Euro Sonderumlage für Reparaturen. In der Summe ergibt das mehr als 1100 Euro im Monat. In den allermeisten Annoncen auf den Immobilienportalen werden diese Belastungen verschwiegen. Aus den Geldern werden auch nur jene notdürftigen Maßnahmen bezahlt, die das unkontrollierte Herabfallen von Betonteilen und dergleichen verhindern. Von einer Sanierung kann keine Rede sein. Der Wachdienst auf dem Areal wurde stark zurückgefahren.
In weiten Teilen ist der Komplex ein lost place.
Für Hundehalter sind die Außenanlagen des Zentrums immer noch ein beliebter Anziehungspunkt.
Das Abendlicht lässt das Betongebirge weniger marode erscheinen, als es eigentlich ist.
Dabei war das Ihme-Zentrum zu Beginn durchaus ein politisches Projekt. Der Bau war als Musterbeispiel für den modernen Städtebau geplant – eine Disziplin, in der sich das kriegszerstörte Hannover seit der Amtszeit des einflussreichen Stadtbaurats Rudolf Hillebrecht als Pionier verstand. Im Zentrum sollte man nicht nur wohnen und einkaufen können, sondern auch Arztbesuche und Behördengänge erledigen. „Das Ihme-Zentrum sollte alle Funktionen vereinen“, erläutert der heutige Stadtbaurat Thomas Vielhaber. Sogar der Eingang zu einer eigenen U-Bahn-Station wurde errichtet, auch ein Schwimmbad gebaut. „Man darf nicht vergessen: Die Menschen sind damals auf dem Mond gelandet. Man war sehr technikgläubig, das war damals der Zeitgeist“, sagt Vielhaber.
Die Pläne für das Ihme-Zentrum wurden während der Planungsphase jedoch immer wieder abgeändert, die Bebauung geriet dichter und dichter. Vielhaber erkennt darin einen grundlegenden Fehler. Das Ihme-Zentrum schotte sich viel zu stark vom Rest der Stadt ab, kritisiert der Stadtbaurat. Und so begann schon wenige Jahre nach der Eröffnung der allmähliche Abstieg. Die Rote Armee Fraktion, die damals im Ihme-Zentrum eine konspirative Wohnung unterhielt, verpasste dem Beton-Bau den Decknamen „Klotz“.
Aus Sicht des Eigentümervertreters Jürgen Oppermann stehen auch die großen Gewerbeflächen seit Beginn einem Erfolg der Immobilie im Weg. In den ersten Jahrzehnten finden sich zwar noch große Ketten für diese Flächen. Die Eigentümer investieren aber kaum in die Instandhaltung und Weiterentwicklung des Objekts, das darum immer trister wirkt und zunehmend Leerstände verzeichnet. Rund um die Jahrtausendwende verlassen dann die letzten großen Ankermieter das Areal. Es beginnt das Zeitalter der Investoren, die sich an dem Betonkoloss verheben.
Seit 20 Jahren stehen hier 60.000 Quadratmeter Büro- und Ladenflächen leer.
Den Anfang macht Frank-Michael Engel. Der Immobilienunternehmer aus Bayern nimmt zwar noch Bauarbeiten in Angriff, reicht seine Anteile dann aber abrupt an die amerikanische Fondsgesellschaft Carlyle weiter, die nach der Finanzkrise ins Wanken gerät und ihre in Hannover tätige Projektgesellschaft in die Insolvenz schickt. Da die Bauarbeiten unvollendet abgebrochen werden, mutieren wichtige Teile des Ihme-Zentrums zu abgesperrten lost places, in denen sich Sprayer verwirklichen und zentimeterdick der Taubendreck steht. Die freigelegten Betonskelette der früheren Ladenpassage erinnern an Bilder aus der Jahre zuvor im Kosovo-Krieg zerstörten Stadt Pristina.
Nach mehreren gescheiterten Anläufen für eine Zwangsversteigerung greift 2015 für 16,5 Millionen Euro die Firma Intown des israelischen Immobilienunternehmers Amir Dayan zu. Unter deren Ägide tritt jedoch ebenfalls keine Besserung ein. 2019 reicht Intown seine Anteile dann an Windhorst weiter. Im Grundbuch werden allerdings auch Schulden in Höhe von rund 290 Millionen Euro auf Firmen eingetragen, die zum Geflecht des schillernden Unternehmers Ulrich Marseille gehören. Eine völlig verfahrene Lage, die zusätzlich durch Wechsel auf den Positionen des Insolvenzverwalters und des Hausverwalters erschwert wird.
Und nun? Einfach abreißen, das ganze Ding? Auch das sei „nicht ohne“, warnt Stadtbaurat Thomas Vielhaber. In Hannover kursiert die Zahl, dass die Kosten für einen Abriss eine Milliarde Euro betragen könnten. Das Gebäude ist nicht nur asbestbelastet, sondern bildet auch über mehrere Hundert Meter hinweg das betonierte Ufer der Ihme.
Mittlerweile werden die Wohnungen zum Schnäppchenpreis angeboten.
Der Stadtbaurat Vielhaber würde es lieber bei einem Teilabriss belassen, der zu mehr Grünflächen und mehr öffentlichen Durchgängen führt. Und an die Stelle der großen Gewerbeflächen soll eine kleinteiligere Mischung aus Handel, Handwerk und Büros treten. „Wir entwickeln derzeit Handlungsszenarien“, heißt es vonseiten der Stadt, die im Hintergrund einen Workshop mit Immobilienexperten organisiert hat und mit Juristen an einer Strategie arbeitet. „Der Problemrucksack der Immobilie muss kleiner werden“, sagt Stadtbaurat Vielhaber, der ohne Lösung auch eine Gefahr für die Entwicklung der Umgebung sieht. „Wir haben ja noch Glück, dass der Stadtteil Linden dahinter so ein starker und attraktiver Bereich ist.“
„Wir entwickeln derzeit Handlungsszenarien.“
THOMAS VIELHABER, Stadtbaurat
Derzeit ist allerdings kaum absehbar, wie das Insolvenzverfahren ausgeht und ob sich ein seriöser Investor auf die Immobilie mit ihren zahlreichen Fallstricken einlässt. Das Schnäppchen mit der Maisonette für 199.000 Euro hat für die Käufer garantiert seinen Preis.