Firmengeschichte während der NS-Zeit: Abgründe im Archiv | ABC-Z

Auf dem Tisch liegt eine blaue Kladde mit vergilbten alten Papieren, 500 eng beschriebene Seiten. Manche sehen aus, als seien sie aus Marmor, so zersetzt von feinen Brüchen sind sie. “Da”, sagt Michael Bermejo-Wenzel, “schauen Sie” – er zeigt auf einen mit Schreibmaschine verfassten Brief, in dem ein Unternehmer auf die “Abstellung” der versprochenen Polen und Ukrainer drängt. “Die fordern Zwangsarbeiter an wie Waren.” Unter dem Brief steht: “Heil Hitler!”
Hier, im Bundesarchiv, Dienststelle Berlin, sitzt Michael Bermejo-Wenzel, Historiker, Senior-Researcher bei der Gesellschaft für Unternehmensgeschichte und Autor diverser Standardwerke zur Aufarbeitung des “Dritten Reichs”, an diesem Vormittag an einem Puzzle. Dieses Puzzle wirft seit über 80 Jahren Fragen auf – und die Kladde DY55/3613 ist nur ein Teilchen von Millionen. Irgendwo in den Listen, Briefen und Vermerken hofft Bermejo-Wenzel eine Antwort auf die Frage zu erhalten: Wie hat sich der deutsche Mittelstand, das oft besungene Rückgrat der deutschen Wirtschaft, im Nationalsozialismus im Wesentlichen verhalten? So anständig wie eben möglich? Opportunistisch? Oder aus Überzeugung faschistisch und judenfeindlich? Jedes Beweisstück muss gesichtet werden. Manchmal, flüstert Bermejo-Wenzel, komme er sich vor wie bei der Spurensicherung. Oft sucht er für eine Recherche in bis zu 30 Archiven, sichtet Hunderte Akten und liest Tausende Seiten.
Ja: Vielen dürfte bekannt sein, dass Volkswagen auf persönlichen Wunsch Adolf Hitlers gegründet wurde. Dass die Familie Quandt, der heute ein Großteil des Autokonzerns BMW gehört, durch Enteignungen jüdischer Unternehmer und die Arbeitsdienste von KZ-Insassen reich wurde. Oder dass die Chemiekonzerne Agfa, BASF, Bayer und Hoechst als I.G. Farben in der NS-Zeit das erste privat finanzierte Konzentrationslager errichteten und die SS mit Zyklon B belieferten. Mit jenem Giftgas also, das für die Massenermordung der europäischen Juden eingesetzt wurde.
Die Rolle des Mittelstands in der NS-Zeit ist aber bis heute nur wenigen bewusst. 80 Jahre nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes sind die Verstrickungen der Unternehmen in die Verbrechen der Nationalsozialisten kaum beleuchtet.
Und das, obwohl die alten Akten im Bundesarchiv öffentlich zugänglich sind. Und obwohl in den vergangenen Jahren durchaus Bücher erschienen sind, die oft zum ersten Mal ernsthaft die Verstrickung in die Verbrechen des Nationalsozialismus beleuchten. Sie zeigen, dass man genau herausfinden kann, wie und vor allem mit welchen Motiven ein Unternehmen während der NS-Herrschaft gehandelt hat.
Manchmal bedarf es aber erst eines Shitstorms, bis Unternehmerfamilien sich mit ihrer Vergangenheit beschäftigen. Im Jahr 2019 etwa behauptete Verena Bahlsen, Erbin des gleichnamigen Keks-Imperiums, Bahlsen habe “Zwangsarbeiter genauso bezahlt wie die Deutschen”, “gut behandelt” und sich “nichts zuschulden kommen lassen” – und verursachte damit einen Skandal. Bahlsen, damals 25, entschuldigte sich kurz danach und versprach, sich intensiver mit der Geschichte des Unternehmens zu beschäftigen. Das Unternehmen aus Hannover ließ die Firmenhistorie anschließend von Historikern aufarbeiten. Ihre Recherchen zeigten, dass Bahlsen zwischen 1940 bis 1945 deutlich mehr Zwangsarbeiter beschäftigt hat als lange behauptet. “Unsere Vorfahren und die damals handelnden Akteure haben sich in der NS-Zeit das System zunutze gemacht. Ihr Hauptantrieb schien darin zu bestehen, die Firma auch im NS-Regime weiterzuführen, was schlimme Konsequenzen hatte”, räumte die Unternehmerfamilie 2024 ein.
Auch die Erben des Gütersloher Hausgeräteherstellers Miele haben sich erst viele Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs im Detail mit ihrer Geschichte im Nationalsozialismus befasst. Fragt man bei dem Unternehmen ein Interview zu dem Thema an, lehnt die Pressestelle ab und verweist auf das Buch Miele im Nationalsozialismus – Ein Familienunternehmen in der Rüstungs- und Kriegswirtschaft, das Ende 2023 erschienen ist. Der Familienrat und die Geschäftsleitung hätten den Auftrag dazu gegeben, schreibt die Pressestelle im Namen der beiden Firmenerben Markus Miele und Reinhard Zinkann weiter, weil man “in Gesprächen mit Vorfahren und ehemaligen Beschäftigten über die Jahre den Eindruck gewonnen hatte, dass längst nicht alle Ereignisse bei Miele während der Jahre 1933 bis 1945 präzise überliefert sind”. Heute wisse man, dass man sich “zu lange auf die mündlichen Überlieferungen in den Familien und im Unternehmen verlassen” habe, “viele Details” hätten Miele und Zinkann “überrascht und sehr betroffen gemacht”, “vor allem, dass Miele in deutlich größerem Umfang Munition unterschiedlichster Art produziert hat, als wir dies jahrzehntelang geglaubt haben”.
Es fällt schon auf: Unternehmen, die ihre Geschichte zurzeit aufarbeiten, waren nicht bereit für ein Gespräch mit ZEIT für Unternehmer. Und ist die Aufarbeitung einmal dokumentiert, wächst die Bereitschaft nicht etwa. Im Gegenteil: Es gibt ja dann ein Buch, auf das man verweisen kann.
Eine Ausnahme ist Paul Niederstein, 50, Erbe und Chef der Coatinc Company. Das 1502 in Siegen gegründete Unternehmen ist auf Oberflächenveredelung von Stahl und Metall spezialisiert – und hat, damals noch als Siegener Aktiengesellschaft für Eisenkonstruktion, Brückenbau und Verzinkerei (SAG), in erheblichem Maße von der Kriegswirtschaft der Nationalsozialisten profitiert.
Niederstein selbst hat im Jahr 2020 einen Historiker mit der genauen Aufarbeitung der Unternehmens- und Familiengeschichte beauftragt. “Mir war schon vorher bewusst, dass unser Unternehmen während des Krieges Waffen für U-Boote und Materialien für den Schacht- und Stollenausbau produziert hat – und dass wir Kriegsgefangene beschäftigt haben”, sagt Niederstein. “Das Unternehmen hat während des Krieges gut verdient und tatsächlich sogar noch bis in das Geschäftsjahr 1944/45 Umsatzsteigerungen, Mengensteigerungen und Ergebnissteigerungen erwirtschaftet.”