Geopolitik

Sven Schulze: Ohne Haseloff, mit hohem Risiko und einem Quäntchen Glück | ABC-Z

Die CDU Sachsen-Anhalt hat an diesem Donnerstag eine Personalentscheidung verkündet, die oberflächlich betrachtet katastrophal aussehen mag und die in ihrem Kern dennoch richtig ist. Wie passt das zusammen? Die Antwort auf diese Frage hat mit politischen und physikalischen Gesetzmäßigkeiten zu tun, aber auch mit einer Grabstelle auf dem Friedhof Dresdener Straße in Lutherstadt Wittenberg. 

Nach Wochen des Rätselratens interessierter und halb interessierter Kreise ist klar: Nicht der 71 Jahre alte Ministerpräsident Reiner Haseloff tritt nach 14 Jahren im Amt noch einmal an, sondern sein Wirtschaftsminister, der 46-jährige Sven Schulze. Bis zuletzt war dieser mögliche Ausgang der Kandidatenfrage in Sachsen-Anhalt überwiegend als der schlechtere von zwei ohnehin nicht guten Optionen eingestuft worden. 

Die Logik war simpel: Nur eine erneute Kandidatur Haseloffs könne einen Erfolg der AfD verhindern, nur er könne abwenden, dass diese erstmals eine Landtagswahl gewinnt, nur er habe alles dafür Nötige vorzuweisen, Bekanntheit, Beliebtheit, auch das Zutrauen der Wähler. Sven Schulze? Ein netter Kerl. Aber keine Bastion für ein Land, in dem bei der vergangenen Bundestagswahl 19,2 Prozent die CDU wählten – und 37,1 Prozent die AfD.

Haseloff – nur eine vermeintlich sichere Wahl

Ein Teil der Begründung pro Haseloff war oft der Hinweis, dass dieser das nur schwerst Schaffbare ja schon mal geschafft habe. Und das stimmt ja auch. Vor dem Wahltag 2021 hatte es lange düster ausgesehen für die CDU, den deutlichen Sieg am Ende hatte sie zu einem großen Teil dem promovierten Physiker Haseloff zu verdanken. Doch damals war die Gesamtkonstellation eine andere. Und das berühmte Einstein-Zitat vom Wahnsinn gilt zwar in der Physik – in der Politik gilt es wenn überhaupt nur umkehrt. Ja, in der Politik ist die Definition von Wahnsinn, immer wieder das Gleiche zu tun und gleiche Ergebnisse zu erwarten. Vielleicht nicht beim zweiten, vielleicht auch nicht beim dritten Mal. Reiner Haseloff aber hätte jetzt ein viertes Mal antreten müssen. 

Nun ist es dreizehn Monate vor der Wahl unmöglich, das Ergebnis dieser auch nur ansatzweise seriös zu prognostizieren. Sicher ist, dass diese Wahl wichtiger sein wird als gewöhnliche Landtagswahlen. Sicher ist, dass die AfD mit dem 34-jährigen Ulrich Siegmund einen Spitzenkandidaten ausgewählt hat, der sich gut wird inszenieren lassen als freundliches Gesicht für einen potenziell tiefgreifenden Angriff auf die Regierungszentrale – und der helfen kann, das enorme Potenzial der Partei im Land weitgehend zu heben, sofern er nur wenige Fehler macht. Sicher ist auch, dass die CDU mit der Entscheidung für Sven Schulze ein gehöriges Risiko eingeht, Platz eins zu verlieren. 

Warum ist die Entscheidung für ihn dennoch richtig? Zu leicht wäre es für die AfD im Gegenfall gewesen, auf jung gegen alt zu stellen, auf Neuanfang gegen Immer-nur-weiter-so. Zu leicht wäre es für sie auch gewesen, Haseloff als einen Kandidaten auf vorgepackten Koffern zu etikettieren, der bestimmt keine fünf Jahre mehr durchhalten werde. Zu leicht wäre es für die AfD am Ende damit auch gewesen, diesen Wahlkampf da zu halten, wo sie allen anderen Partei zuweilen deutlich überlegen ist: an der Oberfläche. Deswegen wäre eine Entscheidung für Haseloff als Kandidaten nur die vermeintlich leichtere und bessere gewesen. 

Die Entscheidung wiederum für Schulze bringt zwar die erwähnten Nachteile mit sich, dort wo Vorteile Haseloffs gewesen wären: Schulze ist nicht über die Maßen bekannt, niemand weiß, ob außerhalb des Ministerpräsidenten und seiner Partei auch die Menschen im Land in ihm etwas sehen werden. Aber mit ihm gibt es auch eine klare Strategie, wie die CDU das furchteinflößende Abenteuer Landtagswahl angehen will. Schulze und Haseloff haben diese am Donnerstag im Grunde schon klar umrissen.

Stabilität, aber als Neuanfang

Über allem steht das klare Nein zur AfD. Schulze hat die kategorische Linie Haseloffs in den vergangenen Jahren mitgetragen und sie in einem nicht nur diesbezüglich unsteten Landesverband oberhalb der Kommunen auch durchgesetzt. Konzentrieren will Schulze sich im Wahlkampf auf die Gebiete Inneres und Migration, Wirtschaft und soziale Fragen wie vor allem die des Lohnabstandsgebots. Er will das tun in einem Bundesland, in dem eine Mehrheit für die strikte Begrenzung von Migration ist, in dem seit Monaten in nennenswerten Größenordnungen Industriearbeitsplätze verloren gehen und in dem der Anteil von Menschen, die für vergleichsweise niedrige Stundenlöhne arbeiten, besonders hoch ist. 

Schulze und Haseloff werden bis zum Wahltag beide Teil der amtierenden Landesregierung sein, sie werden im Wahlkampf immer wieder auch zusammen auftreten. Die Idee ist wohl, den Leuten eine Art neues Modell eines bereits etablierten Produkts anzubieten. Stabilität, aber als Neuanfang. 

Kann das funktionieren? Die Hypotheken sind hoch. Die Absage von Intel geht auf viele Kappen und man kann über sie sogar erleichtert sein, eine Erinnerung an eine im Bördeboden versandende Wirtschaftspolitik wird sie gleichwohl bleiben. Und dann sind da noch die ganzen grundständigen Probleme, an deren Fortbestand man sich fast schon gewöhnt hat. Sachsen-Anhalt ist überaltert, was sich nicht nur aber am dringlichsten in Problemen der Bildungspolitik wie auch der medizinischen Versorgung zeigt. Das Stadt-Land-Gefälle ist beträchtlich und so ist auch die Lust vieler Bürger, nicht einfach nur wieder eine neue Koalition zu wählen, sondern mal eine gänzlich neue Regierungspartei.

Die womöglich vorläufig letzte Chance

Diese großen Probleme sind auch die Probleme von Haseloff und seinem Wirtschaftsminister. Aber sie können, so paradox es klingt, für Sven Schulze eine Chance sein. Angesprochen auf die große Followerschaft seines Herausforderers in den sozialen Medien sagte Schulze bei seiner Vorstellung, die 5.000 Nummern in seinem Telefonbuch seien am Ende wichtiger als ein paar Likes. Echte Kontakte, belastbare Netzwerke – das braucht ein Regierungschef, darauf spielte er nicht zufällig an. Wenn Schulze die großen Probleme Sachsen-Anhalts nicht mit einer allgemeinen “Wird schon”-Wurstigkeit abmoderiert, sondern sie tatsächlich benennt und bearbeitet, dann kann zumindest der Plan aufgehen, Ulrich Siegmund von der AfD als ahnungsarmen Emporkömmling zu markieren. Reiner Haseloff jedenfalls öffnete am Donnerstag schon mal das Visier, betonte die Regierungserfahrung Schulzes und stellte – ohne die AfD an dieser Stelle explizit zu benennen – die Frage, ob man ein Land mit dutzenden Milliarden BIP “irgendwelchen Amateuren” wirklich überlassen wolle. 

Nach der vergangenen Bundestagswahl war häufiger die Rede davon, in Berlin gehe man jetzt in eine Phase der “letzten Chance”, bevor die AfD endgültig nicht mehr kleinzukriegen sei. Das mag etwas dramatisch gezeichnet gewesen sein – für Sachsen-Anhalt und die Landtagswahl im September 2026 trifft es schon eher zu. Die CDU wird für diese vorläufig vielleicht letzte Chance Signale der Unterstützung aus Berlin brauchen und sie wird sich die Hacken wund und die Reifen runter touren müssen in der Fläche des Landes. Sie wird digital ihr Erscheinungsbild und ihre Kommunikation schnell modernisieren und am Ende auch noch einigen Beistand von oben erhalten müssen, was die Großwetterlage von Wirtschaft und Weltpolitik angeht. Eine bekannte Alternative dazu, diesen Kampf als Volkspartei gegen extrem Rechte anzunehmen, gibt es nicht. 

Und Reiner Haseloff? Der hat am Donnerstag schon mal erkennen lassen, dass er zwar nicht mehr antreten wird, aber doch Lust auf Wahlkampf hat. Angesprochen auf seine impulsive Rede gegen die AfD kürzlich im Landtag und darauf, ob er sein Heimatland im Falle eines Sieges dieser wirklich verlassen werde, sagte Haseloff, das sei verkürzt wiedergegeben worden und treffe also nicht zu – im übrigen könne man ja mal gemeinsam den Friedhof Dresdener Straße in Lutherstadt Wittenberg besuchen. Er habe da eine Grabstelle reserviert und das Geld dafür, das wolle er nicht umsonst ausgegeben haben.

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