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Der Verein Unsere Sternenkinder Rhein-Main kümmert sich um verwaiste Familien | ABC-Z

Ein Kind zu verlieren, ist für Eltern das größtmögliche Unglück, gleichgültig, wie alt es geworden ist. Doch für das Mitgefühl der anderen scheint es einen Unterschied zu machen. Stirbt ein Kind schon während der Schwangerschaft, bleibt der Verlust oft unsichtbar und unbesprochen. Weil Freunde und Angehörige nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen, und Betroffene sich alleingelassen fühlen – mit ihrer Trauer, mit ihren Fragen, mit ihrem Schmerz.

Bis vor Kurzem spiegelte selbst das Gesetz diese Unsichtbarkeit wider: Wenn ein Kind vor der 24. Schwangerschaftswoche starb, gab es keinen Mutterschutz. Eine Frau, die im fünften Monat ihr Kind verlor, hätte demnach am nächsten Tag wieder zur Arbeit gehen sollen – sofern sie nicht von einem Arzt krankgeschrieben wurde. Wie lange, das lag allein im Ermessen des Mediziners.

Erst dem beharrlichen Einsatz von Betroffenen ist es zu verdanken, dass die Gesetze zum 1. Juni geändert wurden und ein gestaffelter Mutterschutz nach einer Fehlgeburt möglich ist. Wer sein Kind nach der dreizehnten Schwangerschaftswoche verliert, bekommt nun zwei Wochen Mutterschutz, nach der zwanzigsten Woche werden es sogar acht Wochen. Ein Gesetz verlangt klare Kanten, Fristen, es muss abgrenzen. „Aber was ist mit der Mutter, deren Kind in der zwölften Woche stirbt?“, fragt Jessica Hefner. Die meisten Fehlgeburten geschehen vor der zwölften Woche. „Für diese Frauen gibt es noch immer keinen Schutz.“

Das dunkle Tuch anheben

Als ein Kind von Hefner und ihrem Mann während der Schwangerschaft starb, fühlten sie sich einsam in ihrer Trauer. „Für unsere Gefühle fehlte ein Raum, in dem wir sie teilen konnten“, sagt sie. Als wäre dieses Schicksal etwas, das ein Paar oder eine Mutter allein tragen müsse. Etwas, über das man nicht sprechen kann oder soll. Aus dieser Erfahrung heraus gründeten Hefner und ihr Mann mit anderen Betroffenen den Verein „Unsere Sternenkinder Rhein-Main“. Der Begriff steht für jene Kinder, die während der Schwangerschaft, bei der Geburt oder im ersten Lebensjahr sterben. Der Verein wendet sich an die verwaisten Familien.

Jeder Mensch trauert anders. Aber alle, die bei dem Verein „Sternenkinder“ in Offenbach die Selbsthilfegruppen, Workshops oder Trauerbegleitungsangebote besuchen, hätten etwas gemeinsam, sagt Hefner: „Niemand will hierherkommen. Wir sind der Club, zu dem keiner gehören will.“ Gerade weil das so sei, sei es umso wichtiger, einen Raum zu schaffen, der Geborgenheit und Wärme ausstrahle. In dem sich Menschen begegnen könnten, die durch ein gemeinsames Schicksal verbunden seien, für die dennoch, wie für alle, gelte: „Das Thema Tod überfordert uns. Aber am Anfang des Lebens überfordert es uns umso mehr, weil es die natürliche Reihenfolge umkehrt.“

Manche Eltern wagen in den Treffen zum ersten Mal, wieder zu lachen – weil es dort nicht falsch verstanden wird. „Wenn ich draußen lache, denken alle, es geht mir wieder gut. Hier wissen alle, dass das nicht stimmt“, erklärt Hefner. Für die Eltern ist es tröstlich, einen Ort zu haben, an dem Lachen und Weinen nebeneinanderstehen dürfen, an dem Floskeln vermieden werden und auf vorschnelle Ratschläge verzichtet wird. Wo sie aussprechen können, dass sie den Anblick anderer Schwangerer und Mütter mit ihren Kinderwagen kaum ertragen. Und wo Fragen auftauchen wie: „Wenn ich mein Kind in der zehnten Woche verliere, bin ich dann eine Mutter?“ Oder: „Wenn jemand fragt: Hast du Kinder? Was antworte ich da?“

Jessica Hefner sagt dann heute meist: „Ich habe drei lebende Kinder.“ Dann kann das Gegenüber nachfragen, wenn es möchte – und die Antwort aushalten kann. Hefner hat auch drei Kinder beerdigt. „Wir sollten über die Tragweite dieser Frage, die oft so beiläufig gestellt wird, nachdenken“, sagt sie. Und doch wünschen sich die meisten Familien, dass sie über das Erlebnis sprechen können, dass jemand das dunkle Tuch anhebt, das sich nach dem Tod eines Kindes auszubreiten scheint, und darunter schaut.

Will Betroffene begleiten: Vereinsgründerin Jessica Hefner.Ben Kilb

Was soll man auch sagen? Kann es einen Trost geben? „Den richtigen Satz gibt es nicht“, sagt Hefner. Es gehe darum, für den anderen da zu sein. Und vielleicht zu fragen: „Was brauchst du, was möchtest du denn?“ Oder: „Darf ich dich zum Grab begleiten?“ Und wenn das nicht geht, ehrlich zu bleiben: „Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Willst du mir was erzählen?“

Auch das wäre besser als jene Phrasen, die die Teilnehmerin eines Workshops einmal „Trauer-Bullshit“ genannt hat. Floskeln, die trösten sollen, aber das Gegenteil bewirken: „Du hast ja schon Kinder“, „Vielleicht war es besser so“, „Ihr könnt ja noch mehr Kinder bekommen“.

Der Verein ist auch ein Ort, wo Menschen sind, die all die Tränen, all die Gefühle aushalten können. Hefner hat sich zur Trauerbegleiterin ausbilden lassen und dabei gelernt, dass der eigene Weg, mit dem Verlust umzugehen, nicht der einzige ist. „Mein Gegenüber muss die Situation überleben und nicht ich. Wir haben unterschiedliche Erfahrungen und Prägungen.“

Ihre Aufgabe sei es, zu begleiten, nicht voranzugehen, sagt Hefner. „Gerade in Schockmomenten folgen die Menschen gerne einem anderen, sie haben vielleicht das Gefühl, nicht selbst entscheiden zu können. Doch dann wissen sie irgendwann nicht mehr, wo sie sind.“ Für jene, die ein Angebot in der Selbsthilfe suchen, denen das Gespräch in einer Gruppe aber zu viel ist, bietet der Verein seit Kurzem auch Patenschaften an. Ein Austausch auf Augenhöhe zwischen zwei Menschen, die Ähnliches erlebt haben.

Alle Angebote des Vereins sind unentgeltlich, finanziert von Stiftungen wie der Crespo Foundation und gefördert von der gesetzlichen Krankenversicherung. Eine staatliche oder kommunale Unterstützung hat der Verein bislang nicht. 2017 fand die erste Selbsthilfegruppe zusammen, 2019 wurde der Verein gegründet, inzwischen gibt es elf Gruppen in ganz Hessen.

Vision der Vereinsmitglieder ist, für alle Betroffenen eine stimmige Begleitung anbieten zu können. Die Nachfrage ist groß: Mittlerweile kümmern sich vier Menschen hauptamtlich um den Verein, etwa 45 Mitglieder unterstützen sie. Gerade sind „Unsere Sternenkinder Rhein-Main“ in neue Räume an der Kaiserstraße in Offenbach gezogen. „Das neue Domizil braucht noch Liebe, aber wir sind glücklich, endlich ein Zuhause gefunden zu haben“, sagt Hefner. Dort gibt es mehr Platz, um noch mehr Angebote zu machen.

Der Verein will aber nicht nur Gespräche zwischen Betroffenen ermöglichen, sondern auch sichtbar machen, was der Verlust eines Kindes für eine Familie bedeuten kann. Dazu werden sich Familien und Angehörige von Sternenkindern schon im zweiten Jahr am 15. Oktober vor dem Frankfurter Römer versammeln, um gemeinsam durch die Innenstadt zum Hauptfriedhof zu ziehen. Mit Musik und vor allem in Gesellschaft von Freunden und Mitfühlenden und all jenen, die ihrer verstorbenen Kinder gedenken wollen.

In der Ankündigung der Veranstaltung heißt es: „Die Welt eines Menschen zerbricht, wenn ein Kind geht. Und dort, wo ein Dorf notwendig ist, um ein Kind beim Wachsen zu begleiten, braucht es die gesamte Gesellschaft, um (er)tragen zu können, wenn ein so kleiner Mensch von uns geht.“

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