Verwahrlosung von Wohnraum: Alles muss man selber machen | ABC-Z

Wer es trotz warnenden Aushangs wagt, vorbei an den 84 Klingelschildern durch die zersprungene Glastür einzutreten, findet sich in einem Wohngebäude wieder, das wie eine Baustelle anmutet. Dicke, orangefarbene Kabel ragen neben dem Aufzug aus der Wand heraus, Bauschutt häuft sich auf dem Boden. Im Treppenhaus und den Etagenflur liegen kleine Trittleitern und Materialsäcke, als wären die Handwerker:innen nur kurz in der Mittagspause.
Dabei würden hier nur alle paar Wochen eine Handvoll Arbeiter:innen vorbeikommen – wenn überhaupt, erzählt Mieter Timo Färber, der in Wirklichkeit anders heißt. Wie alle Bewohner:innen des Hauses will er aus Angst vor Problemen mit der Hausverwaltung nicht mit seinem echten Namen in der Zeitung stehen. Färber wohnt seit 2019 in der Ritterstraße und hat Ende vergangenen Jahres eine Mieter:innen-Initiative ins Leben gerufen, um sich gegen die Untätigkeit der Hausverwaltung zur Wehr zu setzen.
„Wir bieten nachhaltig optimiertes Property Management für Wohnimmobilien“, wirbt Talyo auf seiner Webseite. „Für zufriedene Vermieter, Mieter und eine Welt, die von beidem profitiert.“ Von Mieter:innenzufriedenheit kann in Kreuzberg aber keine Rede sein: Seit Talyo im Jahr 2024 die Hausverwaltung in der Ritterstraße 95 übernommen hat, gehe es bergab mit dem Haus, sagt Mieter Färber. Zwar sei es auch zuvor schon etwas heruntergekommen und das Treppenhaus „ein bisschen eklig“ gewesen, aber zumindest begehbar. Heute ist es mit Kot, Bauschutt und Überresten von Drogennutzung vermüllt.
Nur noch „ausstehende Restarbeiten“
Um den Parkourlauf und den unangenehmen Geruch zu vermeiden, nutzen die Bewohner:innen einen schmalen Fahrstuhl, der bis in den 14. Stock fährt. Oben wartet eine Aussicht über ganz Berlin – ein Grund dafür, warum er trotz allem gern hier wohnt, erzählt Färber.
Die großen Probleme im Haus hätten mit der Strangsanierung im Jahr 2023 begonnen. Dabei werden Versorgungsrohre und -leitungen im gesamten Haus ausgetauscht. Dadurch mussten die Bewohner:innen zur Toilettennutzung auf vor dem Haus platzierte Container ausweichen. Seitdem sei das Leben in der Ritterstraße „wie auf einer nie endenden Baustelle“, sagt Färber. Zwar seien die eigenen Toiletten mittlerweile wieder nutzbar, aber die Erneuerung der Stromversorgung sei immer noch nicht abgeschlossen. Von einem planvollen, zielgerichteten Bauvorgehen sei keine Spur, kritisieren die Mieter:innen.
Die Talyo-Hausverwaltung erklärt auf taz-Anfrage, die Sanierungsarbeiten im Haus befänden sich in ihrer „finalen Phase“. Es gebe nur noch „ausstehende Restarbeiten“, die derzeit „überprüft und dokumentiert“ würden, „um eine vollständige Fertigstellung durch die beauftragten Unternehmen sicherzustellen“, so eine Unternehmenssprecherin.
Zu Sanierungsbeginn war noch Capera die verantwortliche Hausverwaltung. Die Firma habe sich zumindest auf Mietminderungsforderungen aufgrund der Baustellen- und Toilettensituation eingelassen und war grundsätzlich ansprechbar, erzählt Färber. Beim Kontaktversuch zu Talyo im Serviceportal bekämen sie hingegen nur eine automatische Antwortmail: „Ihre Anfrage ist uns sehr wichtig“ – dann Funkstille.
Bedrohungen im Hausflur
Damals hätten auch noch keine obdachlosen Menschen im Hausflur genächtigt. Mittlerweile habe sich die Ritterstraße im Kiez als Adresse mit offenen Haustüren herumgesprochen. Mit einem festen Tritt könne man die Haustür öffnen, erzählt Färber, repariert werde das nicht.
Laut Talyo-Sprecherin soll eine „neue, stabile und sicherheitszertifizierte“ Tür „bis spätestens Oktober 2025“ installiert werden. Für die Zwischenzeit entwickle die Hausverwaltung derzeit „eine Sicherheitsstrategie mit geeigneten Maßnahmen zur Sicherstellung des Eingangsbereichs“. Worin diese Maßnahmen bestehen, sagt die Sprecherin nicht.
Mieter Färber hat Mitgefühl mit den Obdachlosen, die vom nahe gelegenen Kottbusser Tor zunehmend in die Nachbarschaft verdrängt würden. „Das ist alles furchtbar traurig. Die Leute haben sich nicht ausgesucht, später mal im Hochhausflur zu schlafen“, sagt er. Sicher fühlt er sich trotzdem nicht mehr.
Seinen Nachbar:innen geht es ähnlich. „Im Winter musste ich ein- bis zweimal die Woche die Polizei rufen“, erzählt Mieterin Andrea Kling. Sie wohnt schon seit 1963 in der Ritterstraße und wurde bereits mehrfach im Hausflur bedroht. Die Polizei zeige sich oft gleichgültig, auch der hauseigene Sicherheitsdienst lasse sich fast nie blicken.
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Lea Kleinsorge
Creckkonsum eskaliert
Das sei nicht immer so gewesen. „Es war ein schönes Haus, auch das Umfeld. Wir hatten überall Hecken“, erinnert sich Kling. Wie Timo Färber liebt auch sie die Aussicht: „Da sind alle neidisch drauf. Nur die Tauben fliegen in meine Wohnung“, erzählt sie schmunzelnd, als wäre das ein Problem, das sie gern hat.
Heute macht sie sich Sorgen wegen der Menschen, die in den Fluren Crack rauchen: „Was, wenn es mal brennt? Dann kommt niemand die Treppe runter.“ Der Crackkonsum ist in Berlin in den vergangenen Jahren massiv angestiegen. Bereits im vergangenen Jahr klagten Suchtberatungsstellen über maßlose Überlastung, mit dem neuen Haushaltsplan des Senats für die kommenden zwei Jahre drohen zusätzliche Kürzungen.
Die Mieter:innen in der Ritterstraße sagen, sie hätten sich Hilfe suchend an das Bezirksamt gewandt, dort habe es jedoch geheißen, ihnen seien die Hände gebunden. Auf taz-Anfrage erklärt das Bezirksamt, nicht zu wissen, an welche Stelle sich die Mieter:innen gewendet haben. Grundsätzlich erkenne man jedoch die „vielschichtigen und komplexen“ Probleme der Mieter:innen im Viertel an und gehe auch gegen diese vor – die Sicherheit der Häuser sei allerdings Aufgabe der Eigentümer:innen. Die Polizei könne bei Hausfriedensbrüchen kontaktiert werden.
Mit der Erkenntnis, dass man „in diesem Haus alles selber machen“ muss, setzten sich einige Hausbewohner:innen Ende vergangenen Jahres zusammen und gründeten eine Mieter:innen-Initiative. Nach dem anfänglichen Zusammentragen von Problemen wurden Aushänge gebastelt, Flyer verteilt und Haustürgespräche geführt, um noch mehr Mieter:innen einzubinden. Rückendeckung und Unterstützung erhielt die Initiative vom Mieterverein und einem Kreuzberger Kiezteam, das Mieter:innen beim Kampf für bessere Wohnverhältnisse unterstützt.
„Das ist halt Kreuzberg“
Weil Talyo nicht auf Kontaktversuche reagierte, reichte die Initiative im März einen Brief mit einer zusammengetragenen Mängelliste beim Hauseigentümer CA Real Estate ein. Der hat nicht nur in der Ritterstraße, sondern auch in der angrenzenden Lobeck-, Wassertor- und Prinzenstraße Immobilien. Mit der gleichen Hausverwaltung und ähnlichen Probleme.
Auch in der Lobeckstraße hat sich Anfang des Jahres eine Mieter:innen-Initiative gegründet. Monatelang hätten sie auf Betriebskostenrückzahlungen gewartet, erzählt die Bewohnerin Rita Meininger. Eine Rattenplage im Keller habe dann das Fass zum Überlaufen gebracht: „Wir mussten uns selbst um die Ratten kümmern. Ohne Schutzkleidung!“ Die Talyo-Hausverwaltung schreibt auf taz-Anfrage, sie nehme die Probleme ihrer Mieter:innen „sehr ernst“ – eine Anfrage zu diesen Problemen sei allerdings nicht bekannt.
In der Ritterstraße wurde der Druck auf Talyo hingegen groß genug, um eine Reaktion zu erzwingen: Im Mai meldete sich die Hausverwaltung auf die Mängelliste zurück und stimmte einem gemeinsamen Treffen zu. Bei einem Rundgang durchs Haus im Juni brachte die Initiative die Probleme des Hauses zu Protokoll. Rhetorisch hätten die Vertreter der Hausverwaltung die Probleme zwar abgewiegelt – „das ist halt Kreuzberg“ –, aber Vereinbarungen zur fristgerechten Problembehebung zugestimmt, erzählt Färber. Dazu gehören die Reparatur der Haustüren, die Beendigung der Baustelle, die Behebung der Sicherheitsprobleme, die Pflege der Grünflächen und die Aufbesserung der Kontaktmöglichkeiten.
Wieder schöner Wohnen
Auf Nachfrage der taz bestätigt Talyo die Fristen und sichert zu, die Probleme zu beheben. „Die Vereinbarungen sind ein erster Schritt. Nun wird sich zeigen, ob Talyo auch handelt“, sagt Färber. Grund zum Optimismus gebe es aber wenig: Die Frist zur Beendigung der Baustelle sei bereits um mehr als einen halben Monat verstrichen.
„Die Mieterinitiative hat uns allen Hoffnung gegeben“, sagt Rita Meininger. Um den Druck hochzuhalten, wolle man sich nun besser kennenlernen und weiter vernetzen, gerade auch zwischen den Häusern. Ein erster Schritt war das Frühlings- und Sommerfest für alle Bewohner:innen, das die Initiative organisiert hat. „Damit man neben all den anstrengenden Themen auch mal schöne Momente teilt“, so Färber.
„Man spricht immer von Nachhaltigkeit und Erhalten – und dann werden die Häuser hier einfach kaputt gewirtschaftet“, klagt Meininger. „Vielleicht wollen die das hier irgendwann plattmachen und dann was Neues hinbauen“, vermutet sie und deutet in Richtung der modernen Neubauten auf der gegenüberliegenden Straßenseite, in dem überwiegend Luxusgewerbe mit schicken Fensterfronten eingezogen ist.
„Ich bin ’ne alte Kreuzbergerin und habe noch nie woanders gewohnt. Wir wollen in diesen Häusern einfach wieder angenehm leben“, seufzt Andrea Kling, die auf ein halbes Jahrhundert auf diesem Flecken Erde zurückblickt. Rita Meininger nickt: „Wir wollen einen lebendigen und aktiven Kiez. Und ein paar Blumen, nicht nur Beete voll Dreck.“ Vielleicht ja auch wieder gepflegte Hecken.