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Gespräch mit Ulrike Draesner über Astrid Lindgren | ABC-Z

Was war das erste Buch von Astrid Lindgren, das Sie gelesen haben?

„Die Kinder von Bullerbü“ und „Pippi Langstrumpf“. Wir lebten in einem Vorort von München, neben Eva, die bei ihren Großeltern aufwuchs. Ihr Haus war rosa und baufällig. Evas Opa handelte mit Schrott, der Garten stand voller kaputter Autos, durch die Pflanzen wucherten. Eva hatte wahnsinnig viele Freiheiten und immer sehr viel Geld. Sie war es auch, die meine Schwester und mich ins Kino einlud, um „Pippi Langstrumpf“ anzusehen. Danach war uns klar, dass Eva nur noch einen Affen und ein Pferd brauchte. Ich war sieben oder acht Jahre alt. Dank Pippi gab es ab sofort das Gefühl: Mädchen müssen nicht Annika sein! Ich musste es nur noch schaffen, mehr Pippi-Langstrumpf-Artigkeit in mein Leben zu inte­grieren: Freiheit, Abenteuerlust, Kraft. „Real“ scheiterte das, doch das mentale Empowerment blieb.

Pippi war für Sie also ein Rollenvorbild als Mädchen. Haben Sie ihre Lebensweise als Kind auch in Bezug gesetzt zu Ihrem eigenen sozialen Umfeld?

Evas Leben passte so gar nicht in das heile Familienbild, das meine Mutter predigte. Eva hätte, nach meiner Mutter, sehr unglücklich sein müssen. Stattdessen brachte sie Welt auch in unser Leben: Siebzigerjahre-Pop, Make-up, die „Bravo“. Ich war anders als der Rest – ein linkshändiges, hochbegabtes Kind, evangelisch statt katholisch. Und überall sollte diese Andersheit getilgt werden. Pippi hingegen spiegelte mir Abweichung als Freiheitsraum, als Potential. Sie hat meine Einsamkeitsgefühle ein Stück weit aufgefangen. Meine Eltern waren sehr streng, wir wurden regelmäßig geschlagen. Lindgrens Literatur hingegen zeigte einen Umgang zwischen Menschen, der auch über die Generationen hinweg von Verständnis und Mitgefühl spricht. Eine Welt, in der Mädchen wie Jungen starke Hauptfiguren sein können. Das waren wichtige Gegenmodelle.

Hatten Sie als Kind das Gefühl, dass es unrecht ist, was Ihre Eltern tun?

„Unrecht“? Ich weiß nicht. Für das Kind war es ein Riss in der Wirklichkeit. Mit dem Kochlöffel den nackten Hintern versohlt zu bekommen und danach stundenlang ins Zimmer gesperrt zu werden, bedeutet, aus der Welt zu stürzen. Wie kommt man davon wieder zurück in etwas wie Normalität? Man ist innerlich halb taub und tot. Eine Strategie wurde, möglichst früh zu erkennen, wann mein Vater den nächsten Wutanfall haben würde. Man könnte das auch als starkes Em­pathietraining bezeichnen. Ich versuchte, mir Freiräume zu erkämpfen. Mit zehn fing ich an, Nachhilfe zu geben. Und ich übte mich darin, mich unsichtbar zu machen. Ich hörte auf, mit Fremden zu sprechen. Ich riss mir Wimpern und Augenbrauen aus, kaute Nägel, aß nichts mehr. In meinem Elternhaus wurde all dies ignoriert. Es war, als würde man nicht existieren. Wie soll man das nennen?

Kam von der Reformpädagogik etwas in Ihrer Familie an?

Meine Eltern zogen über „antiautoritäre“ Familien her. Bei uns galt „Prügel haben noch keinem geschadet“. Das war für mich schon als Kind eine große Lüge, sah ich doch an meinem Vater, dass sie schadeten. Für meine Eltern waren Reformpädagogik, Studentenproteste und Terrorismus eins. Immer wieder sprach man inzwischen im Radio von einer Ulrike, einer aus meiner Sicht beeindruckenden Terroristin. Ich, die andere Ulrike, saß unterm Tisch und hörte aufmerksam zu. Die realen Gewaltimplikationen waren mir damals nicht klar. Aber ich verstand, dass es draußen in der wirklichen Welt Widerstand gegen die alte Ordnung gab.

Als Astrid Lindgren in den Siebzigerjahren den Friedenspreis erhielt, war vieles im Umbruch. Die Welt wurde freier und politischer, man setzte sich mehr mit der Vergangenheit auseinander. Trotzdem war laut unseren Recherchen die Entscheidung für die Jury nicht einfach, zum ersten Mal eine Kinderbuchautorin mit dem Friedenspreis auszuzeichnen, denn sie ist, so die damalige Sicht, etwas anderes als eine Schriftstellerin, als eine Gelehrte.

Ein schönes Beispiel dafür, wie eine bestimmte Gruppe, hier das weiße männ­liche Bürgertum des neunzehnten Jahrhunderts, Etiketten schafft, um Macht auszuüben. Und wie das im zwanzigsten Jahrhundert, auch nach dem Zweiten Weltkrieg, fortgesetzt wird. Ganz oben die Poesie, hehre Literatur, der Genie­gedanke treibt sein Unwesen. Frauen haben kleinere Gehirne, sind also weder genie- noch politikfähig. Wenn sie schreiben, dann „voller Gefühl“ über Familien und Kinder. In den Siebzigern brach das eben erst auf, es gab eine feministische Bewegung, Protest. Tatsächlich hat, wer auf Literatur für Kinder herabsieht, nur einen sehr kurzen literarischen Verstand. Kinder sind ein gnadenlos ehrliches, schnell gelangweiltes Publikum. Schreibt man für sie, kommt es auch auf eine innere Wahrhaftigkeit an, die Wahrhaftigkeit der Träume, der Wünsche, der Unbekanntheit der Welt und des Hineinwachsens in diese. So etwas wie die Solidarität zwischen Brüdern oder dem Trio Pippi-Tommy-Annika ist ein unverbrüchlicher Wert und wichtige Kinder-Nahrung. Dabei ist auch Lindgren ein „Kind“ ihrer Zeit; ich finde es richtig, das N-Wort aus ihren Büchern zu tilgen, denn ich kann mir nicht vorstellen, dass sie gewollt hätte, dass es stehen bleibt. Meine Tochter ist nicht kaukasisch-weiß, und ich war froh, ihr Lindgrens Bücher geben zu können, ohne dass sie sich irgendwo würde angegriffen oder verletzt fühlen müssen. Auch der Versuch, Sprache auf re­spektvolle Weise zu adressieren, ist ein Stück gelebte „Niemals Gewalt“.

In der Abwertung von Lindgrens Kinderliteratur steckt auch eine Abwertung ihrer Entstehungsbedingungen. Sie hatte kein leichtes Leben, musste ihren un­ehelichen ersten Sohn Lasse anonym entbinden und jahrelang im Ausland lassen. Der Einfall zu „Pippi Langstrumpf“ kam ihr am Krankenbett ihrer Tochter. Die Abwertung vernachlässigt also, warum es überhaupt die Notwendigkeit zu Phantasie und Rollenbildern gibt.

Imaginationsfähigkeit ist ein wesent­liches Element unseres Menschseins. Ohne sie wären wir weder gemeinschafts­fähig noch gäbe es Sprachen, Technik oder Kulturen. In der Abwertung verbirgt sich das hyperrationalistische Bild des ökonomisch bestimmten Menschen. Mit den Kindern werden ja auch Erwachsene und all unsere kindlichen Anteile diffamiert. Lindgren weist in ihrer Rede zu Recht darauf hin, in wie viel „gehobener“ Literatur sich Kinderhass ausdrückt. Das Bild vom „kleinem Tyrannen“, das sie anspricht, wurde im Nationalsozialismus von Autorinnen wie Johanna Haarer stark gemacht. In deren Bestseller „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ empfiehlt sie, das Kind schreien zu lassen, um sich nicht vom ihm „tyrannisieren“ zu lassen. Als Lindgren ihre Friedenspreisrede hielt, wurde dieses Buch, nur um ein paar allzu „rassebedingte“ Kommentare bereinigt, weiterhin eifrig in Deutschland verkauft. Samt seiner Obsession mit Hygiene. Auf meinen Babybildern trägt meine Mutter einen weißen Kittel. Meine Nahrung wurde gewogen und in mich hineingepresst, ob ich mochte oder nicht. Gestillt wurde ich ohnehin nicht. Die nationalsozialistische Absicht dahinter ist, möglichst wenig Bindung entstehen zu lassen, damit das depravierte, also besonders verletzliche Kind früh in die Jugendverbände gesogen werden kann. Abwertung von Kindern und Kinderhass sind grausam und dumm. Lindgren fragt in ihrer Rede, ob die Menschen denn nicht verstehen, dass Kinder die Entscheidungsträger von morgen sind. Und sie betont, dass jeder kleine Mensch seinen Erwachsenen anvertraut ist. Mich berührt das sehr, denn ich hätte als Kind Hilfe benötigt. Doch die gab es nicht; alle Nachbarn haben weggeschaut. Das aber eben ist die Bedeutung von „anvertraut sein“: für einen anderen Menschen mitzudenken. Statt sich vor einem mit bösen Absichten gezeichneten „Feindbild“ zu fürchten. Das gilt nicht nur für unseren Umgang mit Kindern.

Ihr aktuelles Buch „zu lieben“ eröffnet mit einem Motto von Pippi Langstrumpf: „Ach was, wenn das Herz nur schlägt und warm ist, dann friert man nicht.“ Offensichtlich hat Astrid Lindgren Sie bis in die eigene Mutterschaft begleitet. Wie haben Sie denn den Kreislauf von Gewalt durchbrochen?

Für mich war immer klar, dass die Erziehungsmaximen meiner Eltern nicht meine eigenen sein würden. Gewalt jeglicher Art gegen ein Kind ist ein absolutes No-Go. Man braucht Geduld und noch mal Geduld. Man kommt ans Ende seiner Kraft und seiner Nerven. Das weiß man, damit kann man umgehen: bei sich selbst. Zugleich öffnet einem das Zusammensein mit einem Kind einen Raum, den man allein nie betreten könnte. Dort darf ich einem Menschen so vieles zeigen, beibringen und vorleben. Und ich darf mich selbst anstoßen lassen von der Andersheit dieses kleinen Wesens und der Originalität seines Weltblicks. Lindgrens Literatur ist vielleicht deswegen so wirksam, weil sie derartige Wachstumsräume für alle öffnet. Geleitet von einem liebevollen Blick.

Das heißt, Sie würden sagen, dass Lindgrens Literatur auch Erwachsenenliteratur ist?

Unbedingt. Lest und lasst euch mitnehmen in diese Welt! Heute ist „Die Brüder Löwenherz“ eines meiner Lieblings­bücher von Lindgren. Was ist Treue? Wie verstehen wir die Welt? Was bedeutet es, zu sterben oder weiterzuleben? Was ist Geschwisterliebe? Lindgrens Bücher handeln in konziser Form von den wesentlichen Fragen des Menschseins.

Es gab einen, der überhaupt nicht damit einverstanden war, dass Astrid Lindgren den Friedenspreis erhalten sollte: der Vorsitzende des Börsenvereins und damit Vorsitzender der Jury, Rolf Keller. Er beugte sich natürlich dem Votum der anderen, fand aber, man könne eine Kinderbuchautorin keine Friedenspreisrede halten lassen im Vergleich zu den Gelehrten, Wissenschaftlern, Schriftstellern und allen, die vor ihr kamen. Er schrieb ihr ohne Wissen der Jury, sie könne ihre Rede nicht halten, man habe dafür aber einen zweiten Laudator gefunden. Daraufhin schrieb Astrid Lindgren zurück: „Wenn ich meine Rede nicht halten darf, dann muss ich auch nicht nach Frankfurt kommen, also würde ich Ihnen vorschlagen: Kommen Sie doch nach Stockholm und übergeben mir das Geld und die Urkunde, und das war es.“ Da war er nun in Verlegenheit, ohne Preisträgerin. Rolf Keller entschuldigte sich, und die Rede wurde gehalten, und sie wurde zur erfolgreichsten aller Friedenspreisreden. In manchen Bundesländern ist sie Schulpflichtlektüre, und wir kriegen ständig Anfragen von Schülern und anderen, die daraus zitieren wollen. Denn von Astrid Lindgrens „Niemals Gewalt!“ gibt es so viele Bezüge ins Heute, es klingt irgendwie naiv und altmodisch und gleichzeitig modern und richtig wie nie.

Was für eine unglaubliche und dabei leider nur zu glaubhafte Geschichte. Der Versuch eines älteren Mannes, einer mutigen Frau den Mund zu verbieten. Gepaart mit einem erschreckenden Demokratieverständnis. Und wie cool Lindgren die Rückhand spielt! In meinem Buch „Eine Frau wird älter“ beschreibe ich, wie sie mit einer Freundin zu deren achtzigstem Geburtstag mitten in Stockholm auf einen Baum klettert. Die Leute starren. Und Lindgren sagt: „Es gibt kein Verbot für ältere Frauen, auf Bäume zu klettern.“ Diese Art von Widerspruchsgeist ist großartig. Man kann ihn, gerade als Frau, immer wieder brauchen. Er speist auch Lindgrens Friedenspreisrede. Kompromisslos bezieht sie ihre Position: „Niemals Gewalt!“ solle als Zielvorstellung für alle dienen. Doch bei den Kindern als dem schwächsten Glied der Kette muss begonnen werden. Beziehungs- und Herzlosigkeit sind später nie mehr aufzuholen. Und sie macht deutlich, dass es beim Kinderschutz um Fragen von gesamtgesellschaftlicher Tragweite geht. Um unsere Zukunft. Obwohl seit 2001 das Recht auf eine gewaltfreie Kindheit im BGB verankert ist, berichten auch heute erschreckend viele Kinder, dass sie im Alltag physische Gewalt erfahren. Von psychischer ganz zu schweigen. Ich freue mich, dass Lindgrens Dankesrede viel von jungen Menschen gelesen wird. Offensichtlich ist es weiterhin nötig, Aufklärungs- und Unterstützungsarbeit zu leisten. Altersforschung zeigt, dass uns ­Erlebnisse aus der Kindheit und Jugend ­irgendwann einholen. Eine gewaltsame Kindheit wird zweimal erlebt. Gewalt an Kindern ist ein jahrzehntelang wirkendes Verbrechen. Die Beschämung und Demütigung, die in Prügelstrafen liegt, machen es einem schwer, Selbstbewusstsein zu entwickeln, seine Wünsche und seinen Körper zu fühlen, zu wissen, wer man überhaupt ist. Das hat subjektive und gesellschaft­liche Folgen. Wie Lindgren gleich zu Anfang ihrer Rede betont: Auf die Entscheidung des Einzelnen gegen Gewalt kommt es an. Doch wie soll er oder sie dazu kommen, wenn sie selbst in gewaltvollen Verhältnissen aufwuchs? Es ist unsere Aufgabe, zukünftige Erwachsene dazu zu befähigen, sich in einer Welt zurecht­zufinden, die jetzt für uns alle noch unvorstellbar ist. Und für diese Welt Verantwortung zu übernehmen. Ein heute in Deutschland geborenes Kind hat eine Lebenserwartung von hundert Jahren. Wie sieht die Welt 2070 aus, wie 2100? Das Wesentliche ist nicht, dass ich einem Kind beibringe, wie ein Handy funktioniert, sondern ihm die Befähigung gebe zu entdecken, wer es in einer offenen Zukunft selbst sein kann.

Zu Beginn des Ersten Weltkriegs bildeten sich verschiedene Wohltätigkeitsorganisationen, „Save the Children“ zum Beispiel in England, die auch Geld für deutsche und österreichische Kinder sam­mel­ten. Es ging darum, Kinderrecht un­abhängig von der Nationalität zu wahren.

Ich möchte das zuspitzen: Warum nehmen wir Kinder überhaupt in nationale Haftung? Ich verstehe, warum für viele Menschen Herkunft wichtig ist. Das Konzept hilft uns, unserer Identität Kontur zu geben. Doch wir müssten viel klarer darüber diskutieren, was es bedeuten soll. Es ist grausam, Geflüchteten den Nachzug ihrer Kinder zu verweigern. Wem soll das helfen? Seelische Brutalität sorgt für weitere Brutalisierung. Welche Zukunftsszenarien stellen wir uns als Konsequenzen derartigen Handelns vor? Lindgren lässt sich von Ängsten nicht blenden. Das ist so inspirierend an ihr. So kommt sie nie in die furchtbare Versuchung, Nationalität und Fremdenangst über Menschlichkeit zu stellen.

Ulrike Draesner wurde 1962 in München geboren. Zuletzt erschien „zu lieben“ (Penguin).

Astrid Lindgrens Friedenspreisrede von 1978 ist einzusehen unter https://www.friedenspreis-des-deutschen-buchhandels.de/alle-preistraeger-seit-1950/1970-1979/astrid-lindgren.

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