Krankheit: Erst nach der siebten Alkoholvergiftung fanden die Ärzte die Diagnose |ABC-Z
Erst nach der siebten Alkoholvergiftung fanden die Ärzte die Diagnose
Sie lallte, schlief bei der Arbeit ein, hatte mehrere Promille im Blut – aber keinen Tropfen getrunken: Eine kanadische Patientin gab dem Klinikpersonal Rätsel auf. Dann wurde bei ihr eine seltene Erkrankung festgestellt. Forscher haben das Phänomen nun näher untersucht.
Betrunken sein, ohne Alkohol getrunken zu haben – das gibt es tatsächlich. Eigenbrauer-Syndrom wird das Phänomen genannt, das zum Beispiel vor Verkehrsgerichten schon mehrfach eine Rolle spielte. Für Betroffene könne das Phänomen eine schwere Belastung sein, weil es meist nicht direkt erkannt werde, schreibt ein Medizinerteam im „Canadian Medical Association Journal“.
Die Diagnose werde häufig erst mit jahrelanger Verzögerung gestellt. „Das Eigenbrauer-Syndrom hat erhebliche soziale, rechtliche und medizinische Folgen für die Patienten und ihre Angehörigen“, schreibt die Gruppe um Rahel Zewude von der University of Toronto.
Berichtet wird über eine Frau in Kanada, die mehrfach wegen extremer Tagesmüdigkeit und undeutlicher Sprache in die Notaufnahme kam. Sie habe jedes Mal eine schlimme Alkoholvergiftung mit erhöhten Blutalkoholwerten und Alkohol im Atem gehabt – und jedes Mal angegeben, keinen Alkohol getrunken zu haben.
Veränderungen der Darmflora als Ursache
Die Frau, verheiratet und Mutter, sei von Internisten, aber auch Psychiatern aus dem suchtmedizinischen Bereich untersucht worden und nach jedem Klinikbesuch ein bis zwei Wochen wegen anhaltender Lethargie und Übermüdung arbeitsunfähig gewesen. Erst beim siebten Besuch sei das Eigenbrauer-Syndrom (englisch: Auto-Brewery Syndrome) als mögliche Diagnose für die 50-Jährige ins Spiel gekommen.
Als Ursache für die seltene Erkrankung wird angenommen, dass die normale Darmflora von Pilzen überwuchert wird, die durch Gärung aus Kohlenhydraten Alkohol erzeugen. Vermutet wird ein Zusammenhang zu anderen Krankheiten wie Diabetes oder Leberproblemen sowie eine erbliche Komponente, wie es in der Studie heißt.
Häufig beteiligte Pilze seien Saccharomyces cerevisiae und bestimmte Candida-Arten wie C. albicans, auch Bakterien könnten eine Rolle spielen. Im vorgestellten Fall hatte die Frau wegen wiederkehrender Harnwegsinfektionen mehrere Antibiotika sowie einen Protonenpumpenhemmer gegen Magenbeschwerden eingenommen.
Einige Zeit später begann sie unter übermäßiger Schläfrigkeit mit plötzlichem Einschlafen während der Arbeit oder bei der Zubereitung von Mahlzeiten zu leiden. Dann folgten die Klinikeinweisungen. Zur Behandlung erhielt sie nach der Diagnose antimykotische Medikamente, zudem wurde eine kohlenhydratarme Ernährung empfohlen. Nach einiger Zeit klangen die Symptome dauerhaft ab.
Einem Verdacht auf das Eigenbrauer-Syndrom solle frühzeitig nachgegangen werden, empfehlen die Mediziner, „da Verzögerungen bei der Behandlung die körperlichen, sozialen und finanziellen Folgen verlängern können“.
Ein standardisiertes Diagnoseverfahren gebe es allerdings bisher nicht. Für die Therapie gibt das Team zu bedenken, dass – wie auch im vorgestellten Fall – mit Rückfällen nach dem Absetzen der Antimykotika zu rechnen ist.
In Belgien war kürzlich ein vermutlich am Eigenbrauer-Syndrom leidender Mann vom Vorwurf der Trunkenheit am Steuer freigesprochen worden. Ein Rechtsmediziner hatte bestätigt, dass das Syndrom höchstwahrscheinlich vorliege. Ähnliche Fälle hatte es auch in den USA schon mehrfach gegeben.
Auch bei gesunden Menschen wird Wissenschaftlern zufolge während der Verdauung Alkohol – genauer Ethanol – gebildet, allerdings nur in geringen Mengen. Experten vermuten, dass es eine recht hohe Dunkelziffer nicht erkannter Fälle für das Eigenbrauer-Syndrom gibt. Mitunter kann im Umfeld der Verdacht entstehen, es handle sich um heimliche Alkoholiker.