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Hans Joas’ Buch „Universalismus“ | FAZ | ABC-Z

Hans Joas versucht in seinem neuen Buch einen großen Wurf, nämlich eine welthistorische Soziologie der Religionen, die ihre Beschränkung auf das Religiöse zugleich überschreitet. Er skizziert die sozialen Entstehungsbedingungen von fünf Weltreligionen (Judentum und Christentum, Hinduismus, Bud­dhismus und Islam) und zweier phi­losophisch-kosmologischer Weltsichten (Stoa, Konfuzianismus). Doch sein Interesse gilt dabei nicht den religiösen oder metaphysischen Ideen als solchen. Ziel seiner theoretischen Neugier ist der „moralische Universalismus“: ein nicht auf die eigene Familie, den eigenen Stamm, die eigene Nation oder partikulare politische Ordnung, sondern auf die ganze Menschheit bezogenes Ethos.

Am Anfang steht Karl Jaspers’ Diagnose der „Achsenzeit“, jene vage zwischen 800 und 200 v. Chr. angesiedelte Geschichtsperiode, in welche die Lebenszeit von Konfuzius und Buddha fällt, die Mahnungen der jüdischen Propheten und die Entstehung der klassischen griechischen Philosophie. Wohl unabhängig voneinander brechen in den großen Zivilisationen Eurasiens mythische Hintergrundgewissheiten auf, in ganz verschiedenen Glaubenssystemen werden allgemeinmenschliche Normen fassbar. Diese Heterogenität religiöser Quellen einer künftigen Menschheitsethik wollte bereits Jaspers hervorheben, ohne dass ihm eine Integration gelang.

An einem den Konflikt der Glaubensmächte „übergreifenden“ moralischen Mindestkonsens (John Rawls) aber zeigt sich Hans Joas wenig interessiert. Prima vista gibt es zwischen so unterschiedlichen ‚Achsenzeit‘–Weltbildern wie dem buddhistischen Nirvana, der stoischen Weltseele oder dem allmächtigen Christengott keinerlei gemeinsame Koordinaten. Könnten ihre „Chiffren der Transzendenz“ (Jaspers) einander dennoch ergänzen? Oder kann „nur“ eine innerweltliche Mitleidsethik mögliche moralische Gemeinsamkeiten zwischen ihnen stiften?

Weltflucht und Weltentwertung

Einer historischen Logik fortschreitender Universalisierung folgen sie jedenfalls nicht. Joas sieht seine Rekonstruktion von Varianten „des“ (oder: eines) moralischen Universalismus nur als „affirmative Genealogie“, als plausiblen Rückblick auf religiöse Kontexte, in denen universalistische Normen zuerst formuliert wurden. Heutige Konzeptionen allgemeiner Menschenwürde mögen ohne jede logische oder religiöse Zwangsläufigkeit auf ihre Motive zurückgreifen.

Hans Joas: „Universalismus“. Weltherrschaft und Menschheitsethos.Suhrkamp

Joas’ Arbeitsprogramm nötigt alle Achtung ab, sorgt aber auch für einige Verwirrung. Das analytische Rüstzeug seiner Diagnosen liefern ihm zwei Klassiker der deutschen Religionssoziologie: Max Weber und Ernst Troeltsch. Freilich ist ihre von Joas ständig betonte „methodische“ Relevanz für den moralischen Universalismus allenfalls indirekter Natur und ihr intellektueller Zugang zum moralischen Profil der Weltreligionen geradezu gegensätzlich.

Weber interessieren die treibenden Rationalitätsmuster der westlichen Moderne. Nichtwestliche, gleichwohl rationale Weltbilder wie den Konfuzianismus Chinas oder die Religionen Indiens studiert er als Kontrastbild. Paradigmatisch sind für ihn die Unterschiede zwischen einer zwar jenseitsorientierten, aber durchaus innerweltlich aktivistischen christlichen Ethik im Westen und den religiösen Ethiken von Weltflucht und Weltentwertung auf dem indischen Subkontinent. Fragen nach einer übergreifenden universalistischen Moral aus religiösen Quellen stellte Weber nicht. Er teilte hier eher die grimmige Skepsis Nietzsches.

Universalistische Religionen entstehen oft nicht im Zentrum von Weltreichen

Ernst Troeltsch’ Schwerpunkt hingegen war und blieb die Entwicklung des Christentums – insbesondere in seinen bis heute unübertroffenen „Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen“ (1912). Von der teleologischen Auszeichnung des Christentums als ethischer Gipfelpunkt der Menschheitsgeschichte rückte er zwar zunehmend ab. Doch für andere als christliche (und zum Teil jüdische) Sozialformen von Religion interessierte er sich nie.

Nun ist für Hans Joas Troeltschs Analyse der sich wandelnden Beziehungen der christlichen Kirche(n) zur politischen Macht, vom römischen Imperium bis zu den katholischen Monarchien der Neuzeit, „methodisch“ zentral: als Schlüssel für die Beziehungen zwischen „moralischem“ und „politischem Universalismus“, den beiden tragenden Kategorien seines Buchs. Und damit verwickelt sich seine Argumentation erheblich. Joas muss nämlich Webers an Universalmoral herzlich desinteressierte Diagnosen dieser oder jener Weltreligion emendieren oder korrigieren – und zwar durch Fragen, die Troeltsch gar nicht gestellt hatte: Was hätte der Theologe etwa zur buddhistischen Sangha gesagt, eine für Max Weber wenig zukunftsträchtige Organisationsform weltabgewandter Mönchs­gemeinschaften? Gab es buddhistische Parallelen zur Sozialform der Kirche im christlichen Westen?

Für Antworten auf derartige Fragen greift Hans Joas daher auf Arbeiten des 2013 verstorbenen amerikanischen Soziologen Robert Bellah zurück. So lasse sich die Entstehung des (oder eines) „moralischen Universalismus“ in der antiken Achsenzeit nur in ständiger Wechselwirkung mit dem (oder in Reaktion auf einen) „politischen Universalismus“ verstehen. Mit dieser (wie er betont) „eigenen Wortschöpfung“ bezeichnet Joas die expansive Tendenz von Imperien und vor allem ihre Neigung, die eigene Herrschaftsstruktur zu „sakralisieren“, nicht zuletzt die Zentralgestalt des Großkönigs oder Kaisers.

Der Übergang vom Mythos zum Logos

Neuere Studien (Garth Fowden, Almut Höfert) sprechen gar vom „imperialen Monotheismus“ – doch diese Linie vom Perserreich über das Imperium Romanum bis hin zum muslimischen Kalifat scheint reichlich überzogen. Vergöttlicht wurden ja gerade nicht der persische Großkönig oder der muslimische Kalif, sondern nur der divus Augustus, bevor der römische Kaiser dann mit der kon­stantinischen Wende gegenüber dem Christengott ins zweite Glied zurücktrat.

Vor einigen Jahren wies Glenn Bowersock für die Geburtsszene der islamischen Verkündigung auf die Konkurrenz gleich dreier antiker Großreiche auf der arabischen Halbinsel hin: das christlich-orthodoxe Byzanz, das ebenfalls christliche (wenngleich nicht-„chalkedonische“) äthiopische Königreich und das persische Großreich. Nachdem die neuere Koranforschung den auch religiös pluralen „spät­antiken“ Horizont des Koran erschlossen hat, sollte man nun versucht sein, spätere imperiale Neigungen im Islam auf diese machtpolitische Urszene zurückzuführen? Wie auch immer: eine exklusive Prägung des islamischen Universalismus durch die politische Reichsbildung von Khans und Kalifen lässt sich daraus nicht ableiten.

Auch für Joas kann ein imperialer Universalismus per se das Entstehen des moralischen Universalismus im „Zeitalter der Transzendenz“ noch nicht erklären. Universalistische Religionen entstehen oft nicht im Zentrum von Weltreichen, sondern an ihrer Peripherie, wie im von Rom unterworfenen Israel. Das persische Achäminidenreich beeinflusste mehrere „achsenzeitliche“ Universalismen: Judentum, Christentum und den griechischen Übergang vom Mythos zum Logos.

Ein eindrucksvolles Dokument der Humanität

Joas postuliert also kein generelles Reiz-Reaktionsschema zwischen „politischem“ und „moralischem“ Universalismus, „weil es sich eben nicht um Kausalität, sondern um Kreativität handelt“, wenn sich moralische Ideale und religiöse Gesinnungen gegenüber einer imperialen Herrschaftsstruktur entwickeln. Soziale Kreativität aber agiert in ambivalenten Konfliktsituationen ganz unterschiedlich – oder eben gar nicht. Joas’ Sammelkategorie „politischer Universalismus“ für alle möglichen Imperien wirft damit am Ende mehr Fragen auf, als sie löst. Ist sie überhaupt der angemessene Begriff für Großreiche ganz verschiedener Ideologien und Größenordnung?

Ein anderes Beispiel ist die gerne bemühte Analogie zum Verhältnis zwischen universalistischer Kirche und den christlichen Reichen Europas. Im interreligiösen Vergleich wird hier gerne auf die Konversion des indischen Kaisers Ashoka zum entstehenden Buddhismus im dritten vorchristlichen Jahrhundert verwiesen: War das etwa ein Pendant zur konstantinischen Wende im spätrömischen Reich? Die Motive der neuen kosmologischen Reflexion des Buddha waren jedoch ganz andere. Seine weltgeschichtlich wohl erstmalige Gründung freier Mönchsgemeinschaften (sanghas), im Gegensatz zur bisherigen erblichen brahmanischen Priesterkaste, verweist auf soziale Umbrüche Indiens im vierten vorchristlichen Jahrhundert.

Neue, städtische Intellektuelle traten auf, Prediger, Weise, unabhängige Lehrer, die eher an wandernde hellenische Philosophen und Sophisten erinnern mögen als an die Propheten des Alten Testaments. Der Buddha war einer solcher wandernd Lehrenden und Suchenden – wie Jina Mahavira, der Gründer der Jaina-Religion. Gewiss wurde das Aufbrechen kosmologischer wie hierarchischer Ordnungen auch durch geopolitische Umbrüche in der Nachbarschaft beeinflusst – von Alexanders Indienfeldzug bis zur Mauryanischen Reichsgründung Ashokas. Dessen Toleranz-Dekrete und seine proklamierte Reue über die Brutalität der eigenen Feldzüge in seinen berühmten Felsen-Edikten zählt Joas mit Recht zu den welthistorisch eindrucksvollsten Dokumenten von Humanität.

In zwei biographisch enggeführten Kapiteln behandelt Joas den antirassistischen Widerstand Martin Luther Kings und der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, in der die „black church“ auch von religösen Repräsentanten des liberalen Judentums unterstützt wurde. Und Mahatma Gandhis Satyagraha: der ebenso gegen den britischen Kolonialismus wie wider die nationalistisch-religiöse Spaltung der indischen Unabhängigkeitsbewegung gerichtete gewaltlose Widerstand speiste sich aus dem in Indien, Südafrika und London entwickelten, höchst persönlichen und religiös durchaus synkretistischen Menschheitsethos des Mahatma. Am Ende ist die Skizze des stets prekären sozialen wie interreligiösen Konsenses für Gandhis Gewaltlosigkeit instruktiver als Joas’ eigene theoretische Hypothese von der Entstehung „des“ moralischen Universalismus aus der Konfrontation mit „dem“ jeweiligen politischen Universalismus – hier: des British Empire.

Joas’ Gegenbeispiel ist der antireligiöse Totalitarismus im China der Kulturrevolution, während er russische Revolution und Stalinismus nur streift. Er definiert den weltweiten Maoismus als „säkularen Universalismus“ – und folgt ihm dann bis in seine absurden Filiationen im westlichen Linksradikalismus und in deutschen K-Gruppen der 1970er-Jahre. Die Schlussfolgerung, der Maoismus sei ein „säkularer Universalismus ohne die Sakralität der Person“, bleibt ganz ohne Troeltsch verständlich.

Wie sieht die Bilanz von Hans Joas’ groß angelegtem Versuch aus? Sein Weber-Troeltsch-Dossier macht mit den Gründerjahren der deutschen Religionssoziologie bekannt. Seine These einer wechselseitigen Konditionierung von moralischem und politischem Universalismus bleibt unpräzise, schärft aber den Blick für Ambivalenzen der sozialen ‚Produktion‘ moralischer Gefühle und Pflichten. Seine lesenswerten Fallstudien zum Menschenrechtsethos im zwanzigsten Jahrhundert verlangen nach einer Kritik im Detail. Insgesamt hat man es mit einem beeindruckendes Panorama zu tun, doch ohne überzeugende Synthese.

Hans Joas: „Universalismus“. Weltherrschaft und Menschheitsethos. Suhrkamp Verlag, Berlin 2025. 975 S., geb., 48,– €.

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