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EM im Münchner Backstage: Begeisterung, ein Schockmoment und feuchte Augen – München | ABC-Z

Plötzlich sind etwa 1500 Leute still. Es ist  23.22 Uhr am Mittwochabend, als die Spanierin Aitana Bonmatí den Ball durch ihre Beine in den Strafraum rollen lässt, sich nach links Richtung Grundlinie eindreht, und den Ball ins kurze Eck schießt. Sie trifft nicht nur zum 0:1 Endstand, sondern dämpft auch die aufkeimende EM-Euphorie in München und Deutschland. Deutlich zu spüren ist diese Euphorie bei einem der größten Public Viewings in Deutschland, möglicherweise sogar dem größten: im Münchner Kulturzentrum Backstage. Der Abend zeigt, wie sehr auch Frauen-Fußball mittlerweile begeistert – und was diese EM noch hätte sein können.

Schon eine Stunde vor Spielbeginn ist fast jeder Platz an den Biertischen im Außenbereich belegt. Es riecht nach Pommes und Zigaretten. Rote Scheinwerfer erleuchten das Zelt, an dessen Front auf einer großen Leinwand die Vorberichte laufen. An einem Tisch sitzt eine Gruppe junger Frauen, sie tragen Trikots und Jacken des DFB, im Gesicht schwarz-rot-goldene Schminkspuren. Die siebzehnjährige Leo freut sich auf Anpfiff: „Es macht richtig Bock. Es ist einfach inspirierend, diese Kämpferinnen zu sehen.“

„Ist ja bloß Frauenfußball“

Wer jetzt noch ins Backstage kommt, muss in die Halle nach innen ausweichen – oder stehen. Eine Gruppe von sieben jungen Männern schaut sich ungläubig an. „Ist ja bloß Frauenfußball, interessiert ja keinen“, äfft einer die weitverbreitete Annahme nach, die vor seinen Augen widerlegt wird. Es sei das erste Spiel dieser EM, das sie gemeinsam schauen. „Das Viertelfinale war der Hammer“, sagt der 19-jährige Luca, im Männerfußball Fan von Dynamo Dresden. „Es ist ein Deutschlandspiel – als deutscher Fußballfan kann man das ruhig mal schauen. Es ist auch einfach geil, wenn so viele Menschen für Fußball zusammenkommen.“

Bis zum Anpfiff sind rund 1500 Fans da, viele in Trikots, wenige mit den typischen Hawaiiketten. „So viele waren es noch nie bei einem Frauenspiel“, sagt Hans-Georg-Stocker, Mitgründer und Chef des Backstage. Der 58-Jährige dirigiert schon den ganzen Tag Arbeiter auf dem Gelände, von Donnerstag an läuft hier ein achtzehntägiges Musikfestival. Stocker erinnert sich: Das erste Frauenspiel zeigten sie im Backstage vor zwölf Jahren, seit 2019 alle Spiele von Welt- und Europameisterschaften. Damit mache er oft sogar Verlust, sagt Stocker – wenn die Technik teurer ist als die Einnahmen mit dem Bier für 4,50 Euro. „Aber ich bin großer Fußballfan, ich freue mich über die Stimmung.“ Und natürlich baue er darauf, dass der Frauenfußball künftig mehr Menschen anzieht, dass sich die Vorleistung lohnt – so wie an diesem Tag.

Was im Backstage am Mittwoch ist, hätte an mehr Orten in der Stadt sein können. Lisa Nerb ist auch heute hier, dabei wollte sie eigentlich für den Sportverband Münchner Sportjugend ein eigenes Public Viewing in Moosach veranstalten. Den spontanen Genehmigungsantrag nach dem Viertelfinal-Sieg der deutschen Fußballerinnen am Samstag habe das Kreisverwaltungsreferat der Stadt erst am Mittwoch beantwortet – da hatte Nerb schon wieder abgesagt. Auch Wirte in der Stadt beklagen, dass spontane Anmeldungen von Übertragungen im Außenbereich nur gegen Mahngebühr möglich waren. Zudem hätten viele um 22 Uhr den Ton abdrehen müssen: eine Ausnahmeregelung vom Lärmschutz, wie sie 2024 von der Bundesregierung erlassen wurde, gab es für die Frauen-EM nicht.

Und so schauen viele Münchnerinnen und Münchner also im Backstage.

Alles, was die umkämpfte Partie in Zürich an Unterhaltung hergibt, nehmen die Fans in München gerne an. Sie jubeln und „ooohen“, als Stürmerin Klara Bühl den Ball knapp am langen Pfosten vorbeilegt. Sie applaudieren, als Torhüterin Ann-Katrin Berger zu einer ihrer vielen Paraden abtaucht. Sie klatschen im Takt, wenn Deutschland einen Standard schießt. Einmal geht ein „Auf geht’s Deutschland, schieß ein Tor“ um. Spielerisch macht Spanien Druck, ist mehrmals kurz vor der Führung. In der ersten Reihe herrscht trotzdem Optimismus. Hier sitzt die 24-jährige Emma mit Freundinnen, eingewickelt in eine Deutschlandfahne. „Das packen wir noch“, sagt sie in der Halbzeit. Alle Spiele verfolge sie. So richtig EM-Stimmung wie bei der Heim-EM 2024 habe sie bislang nicht gefühlt, hier im Backstage aber gefällt es ihr. Aber, so sagt sie: „Der ständige Vergleich zu den Männern nervt mich.“

Die zweite Hälfte des Spiels ist nicht weniger umkämpft als die erste, die Deutschen halten aber etwas besser dagegen. Für Spanien scheint hier keiner zu sein, auch wenn das wohl von der Menge toleriert werden würde. „Die ‚Ober-Proll-Arschlöcher‘ kommen zum Frauenfußball nicht“, sagt Veranstalter Stocker. Das Publikum sei jünger, weiblicher, queerer. „Wär schön, wenn das bei den Männern ein bisschen mehr so wäre.“

Etwa 1500 Fans verfolgen im Backstage das EM-Halbfinale der deutschen Frauen gegen Spanien. (Foto: Robert Haas)
Lange sind die Anhängerinnen und Anhänger der deutschen Mannschaft hoffnungsfroh, wie  Julia (links) und Anna.
Lange sind die Anhängerinnen und Anhänger der deutschen Mannschaft hoffnungsfroh, wie  Julia (links) und Anna. (Foto: Robert Haas)

Kurz vor Ende der regulären Spielzeit zappelt ein Schuss von Stürmerin Bühl am Außennetz, es sieht kurz aus, als sei er drin. Man ahnt, was hätte sein können, wenn hier ein Tor gefallen wäre.

Stattdessen Verlängerung. Stattdessen 113. Minute. Schon Sekunden vor dem Desaster stöhnt die Menge wie unter Schmerzen, als Verteidigerin Sydney Lohmann den Ball nicht aus der eigenen Hälfte klären kann. Dann geht es ganz schnell. Der Ball landet bei Aitana, kurzes Eck, Tor. Nach einem Moment des Schocks im Backstage verschwinden erste Gesichter in Handflächen. Augen nässen hinter gespreizten Fingern.

Kurz wacht das Backstage noch mal auf bei einem letzten Angriff der Deutschen. Aber er führt zu nichts. Abpfiff, aus im Halbfinale. Es hätte der Einzug ins Finale sein können. Sieben Minuten länger durchhalten, dann hätte es Deutschland ins Elfmeterschießen geschafft. Da hätten die Chancen nicht schlecht gestanden, hatte sich die Elf doch im Viertelfinale mit einer Glanzleistung von Torhüterin Berger in eben so einem durchgesetzt. Jetzt ist es genau Berger, die beim Schuss von Aitana ihr kurzes Eck offengelassen hat.

„Ausgerechnet Berger. Extrem schade“, sagt Emma, die Ellenbogen auf ihre Deutschlandfahne gestützt. Stolz sei sie dennoch auf die Mannschaft. Auch Leo, die 17-Jährige in der Trainingsjacke, ist nicht untröstlich. „Ich habe mich noch nie so wenig geärgert – normalerweise bin ich am Boden zerstört. Aber das war einfach Weltklasse von Aitana.“ Ob sie das Finale trotzdem schaut? „Natürlich!“

„Auch das ist Fußball“, sagt Veranstalter Stocker zur Niederlage des deutschen Teams. Er war einer der wenigen, der in München von Beginn an auf dieses Turnier setzte. Ein städtisches Public Viewing plante niemand rechtzeitig. Am Dienstag stellte die SPD im Stadtrat einen Eilantrag für eine Veranstaltung, allerdings erst für ein etwaiges Finale mit deutscher Beteiligung. Selbst das wäre „extrem knapp“ geworden, antwortete Wirtschaftsreferent Christian Scharpf.

Das hätte Sonntag sein können: ein städtisches Event, wie zuletzt bei der Herren-EM 2024. Doch die deutsche EM-Euphorie, die am Samstag im Elfmeterschießen gegen Frankreich aus den Kinderschuhen gekrochen war, sie erlebt ihren Zenit wohl schon an diesem Abend, auch im Backstage. „Sonntag wäre der Wahnsinn geworden“, meint Stocker.

Doch auch, wenn das Finale in diesem Jahr ohne deutsche Beteiligung stattfinden wird: Die Nationalspielerinnen haben mit ihrer Leistung bei der EM eine Begeisterung für den Frauenfußball ausgelöst, die bleiben dürfte. Und: Der Deutsche Fußball-Bund bewirbt sich für die kommende EM im Jahr 2029. Einer der vorgeschlagenen Standorte: München.

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