Ute Lemper, die Marlene für heute | ABC-Z

18. Juli 2025 · Sie ist einer der wenigen deutschen Weltstars. Für uns steht sie in Wuppertal auf den Brettern, die manchmal auch die Modewelt bedeuten. Auftritt Ute Lemper – die Marlene für heute.
Ute Lemper nimmt auf einem der alten, mit grünem Samtstoff bezogenen Klappsessel im Rang der Wuppertaler Lichtburg Platz, einem Lichtspieltheater aus den Fünfzigern, das schon lange kein Kino mehr ist. Sie lässt ihren Blick über das freigeräumte, mit Tanzboden ausgelegte Parkett schweifen. Der Saal dient dem Tanztheater Pina Bausch seit bald drei Jahrzehnten als Probebühne. Es ist Mitte April, die berühmte Kompanie führt gerade das Stück „Die sieben Todsünden“ mit der grandiosen Choreographie von Bausch auf. Achtmal spielt, singt, tanzt Lemper die Anna. Doch an diesem Tag ist aufführungsfrei, weshalb die Lichtburg bis gerade eben die Kulisse für ein Fotoshooting des F.A.Z.-Magazins mit der Künstlerin sein konnte. Mehrere anstrengende Stunden lang dauerte das Shooting. Die 1963 in Münster geborene Lemper wirkt trotzdem beschwingt. „Das ist wie ein Spiel, wie ein Theaterstück. Man repräsentiert verschiedene Stile und gibt ihnen ein Leben.“
Blazer mit starken Schultern und Perlenverschluss sowie schwarzer Mikrorock von Mugler, Peep-Toe-Pumps mit Kroko-Prägung von Acne Studios
Ute Lemper, die seit mehr als einem Vierteljahrhundert in New York lebt, zählt zu den wenigen internationalen Stars aus Deutschland. Ihre Karriere begann noch während ihrer Schauspiel- und Tanzausbildung. Nach großen Erfolgen im Musical „Cats“ in Wien und in der Titelrolle im Musical „Peter Pan“ am Berliner Theater des Westens wurde sie vom Publikum als Sally Bowles in „Cabaret“ zunächst am Düsseldorfer Schauspielhaus und danach in Paris gefeiert. Lemper galt als „la nouvelle Marlène Dietrich“, als „Entdeckung des Jahres“ und wurde mit dem Molière geehrt, dem größten französischen Theaterpreis. In Deutschland hingegen – und nur in Deutschland – wurde sie von der Kritik oft verrissen. Derweil nahm ihre internationale Karriere Fahrt auf. Ihre Langspielplatte „Crimes Of Heart“ machte in den Vereinigten Staaten Furore, in Frankreich drehte sie in rascher Folge fünf Filme – unter anderen mimte sie im Biopic „L’Autrichienne“ Marie-Antoinette.
Eine wichtige Rolle bei ihrem Durchbruch spielte das Werk von Kurt Weill. In Berlin hatte ihr Jürgen Knieper, der Komponist der Musik zu Wim Wenders‘ Film „Der Himmel über Berlin“, bei Klavier- und Gesangsproben im Theater des Westens die Lieder von Weill und Brecht ans Herz gelegt. Eine große Kurt-Weill-Revue mit Nicole Heesters (und später mit Ingrid Caven) inspirierte sie 1986 zu einem eigenen Kurt-Weill-Abend. Im Jahr darauf erschien dann ihre erste Platte „Ute Lemper sings Kurt Weill“ beim Londoner Label DECCA. „Die Läden von Tower Records am Times Square in New York, am Piccadilly Circus in London, auch in Buenos Aires, Tokio und Paris waren tapeziert mit dem Cover der Platte“, erinnert sich Lemper. Wegen des durchschlagenden Erfolgs nahm DECCA weitere LPs für die Serie „Entartete Musik“ auf: „Die Dreigroschenoper“, „Mahagonny Songspiel“, Berliner-Cabaret-Lieder und „Die sieben Todsünden der Kleinbürger“, Ute Lempers Lieblingswerk. Ihre Aufnahme der „Todsünden“ von damals ist vergangenes Jahr neu gemastert worden und nun auf allen Streamingplattformen verfügbar.
Bodysuit mit aufgenähtem Spitzen-BH, Slip und Strapsen, dazu Strumpfhose mit applizierten Kniestrümpfen und spitze Pumps von Balenciaga
Braungrauer Mantel, hoch taillierter Rock aus einem Nylon-Seiden-Blend mit übergroßem Orchideen-Print und applizierten Nieten sowie Mules aus braungrauem Lackleder von Dries Van Noten, schwarzer Fransen-Gürtel aus Leder von YVY
In Lempers Heimatland wurde das wichtige Projekt weitgehend ignoriert. Es war absurd. Denn auf den Bühnen der Welt war Lemper die junge deutsche Künstlerin, die die von den Nazis als entartet gebrandmarkte und ausgesonderte Musik zurückholte, die die revolutionäre Zeit des umfassenden gesellschaftlichen Aufbruchs der Weimarer Zeit wiederbelebte. „Ich war nun zugleich zu einer Botschafterin meiner Generation geworden und musste mich den schwierigen Fragen der Menschen und Journalisten in der Welt zur Nazi-Vergangenheit stellen.“
Ute Lemper gab Kurt-Weill-Konzerte überall in Europa, in Israel, in den Vereinigten Staaten, in Kanada, Japan, Australien. In Paris sah sie mehrfach die Bausch-Kompanie. Mit Pina Bausch, der damals größten Choreographin, die in ihren Inszenierungen Tanz, Spiel und Gesang auf revolutionäre Weise verband, wollte Lemper unbedingt einmal zusammenarbeiten. Ihr Wunsch wurde 1995 wahr. Mehrere Male sprang Lemper in Wuppertal bei Bauschs Weill-Stück „Fürchte dich nicht“ ein, das als Teil zwei nach den „Sieben Todsünden“ bis heute auf den Bühnen der Welt umjubelt wird. „Sie hat mir meine Rolle hier auf der Probebühne in der Lichtburg beigebracht“, sagt Lemper und lässt ihren Blick einen Moment durch den Saal schweifen. Ein tolles Abenteuer sei es gewesen, die besessene, kompromisslose Choreographin kennenzulernen. „Selbstverständlich musste ich mich vollkommen in ihre Kreation einleben, durfte sie nicht mit meiner Vorstellungskraft modifizieren.“ Bis heute, mehr als 16 Jahre nach Bauschs Tod ist das so.
Aschgrauer überlanger XXL-Blazer sowie anthrazitfarbenes V-Neck-Hemd und weißer Lederrock mit seitlichem Quasten-Detail von Bottega Veneta
Alles wird von ihrer Kompanie aufgeführt, wie es sich Pina Bausch ausgedacht hat. Und es ist genau richtig so. Denn alles wirkt bis heute frisch, spontan, faszinierend.
Vor etwas mehr als sechs Jahren kam Ute Lemper noch einmal nach Wuppertal. Diesmal, um Rollen in beiden Teilen einzustudieren. Über dem Ensemble habe nach Bauschs Tod eine Melancholie gelegen, die Visionärin fehlte. „Doch die Legende des Tanztheaters lebte weiter, und sie lebt bis heute weiter.“ In den unveränderten Räumlichkeiten in Wuppertal herrsche noch immer Bauschs Geist. Wunderbar sei es gewesen, ein zweites Mal in die Pina-Bausch-Phantasie einzusteigen. Doch dann sollte nach nur zwei Vorstellungen alles abrupt ein Ende finden. 15 weitere Aufführungen in Wuppertal und im Théâtre du Châtelet in Paris mussten abgesagt werden. „Die beginnende Corona-Pandemie hat alles kaputt gemacht. Ich bin dankbar, dass wir das jetzt nachholen konnten.“
Es gibt eine merkwürdige Phase in Ute Lempers Karriere. Sie will nicht gerne darüber reden. Nach dem überwältigenden Erfolg mit „Cabaret“ in Paris galt die junge Ute Lemper in Deutschland zunächst als nationale Heroin, sie wurde als „Wunderkind“ beschrieben, die es von Münster auf die ganz großen Bühnen geschafft hatte. Doch als die Frankfurter Künstleragentur von Marek Lieberberg sie unter Vertrag nahm, um sie in Deutschland zum Mega-Showstar zu machen, begann ein „teuflisches Spiel“, wie Lemper in ihrer 1995 erschienenen ersten Autobiographie „Unzensiert“ schreibt. „Das Rad rollte schneller und schneller, und ich hatte keinen Einfluss mehr auf das Tempo.“ Zu Lempers Solo-Show kamen in einem Jahr rund 200.000 Besucher. Dreimal nacheinander war die Münchner Olympiahalle ausverkauft, viermal die Westfalenhalle in Dortmund. Alle großen Medien brachten Ute-Lemper-Geschichten. Von ihrer Agentur ließ sie sich in jede der damals noch millionenfach gesehenen Samstagabend-Fernsehshows schieben: zu Kulenkampff, Rudi Carrell und „Wetten, dass . .?“ Bald hatten die Leute genug. „Overexposure“ gilt als eine der größten Sünden der Showbranche. Und viele der Medien, die sie vorher überschwänglich gelobt hatten, begannen mit der Demontage der Heldin. Beim Lesen der Kritiken von damals ist man schockiert über die erbarmungslose Härte des Tons.
Kleid mit Karos und Polka-Tupfen, strukturiert durch Reifrock und geschichtete Taille sowie Peep-Toe-Pumps mit Kroko-Prägung von Acne Studios
Skulpturaler BH mit konisch geformten Cups von Duran Lantink, Meerjungfrauen-Rock mit floralem Print von Marni, Peep-Toe-Pumps mit Kroko-Prägung von Acne Studios
„Es gibt so viel Wichtigeres, als über diese doofe Zeit zu sprechen“, sagt Ute Lemper und streicht über den grünen Samtstoff des Klappsessels neben sich. Sie habe die Sache hinter sich gelassen. Schon seit Langem begegne man ihr auch in Deutschland wieder mit Zuneigung und Neugier. Doch in ihrer zweiten Autobiographie „Die Zeitreisende“, 2023 erschienen, wird deutlich, wie lange „diese doofe Zeit“ sie noch belastete. Sie hatte allen Grund, sich auf sich selbst zu besinnen. Während sie in Deutschland „durch die Papiermühle gedreht“ wurde, war ihr internationales Ansehen wegen ihrer Theaterarbeit in Frankreich und der weltweit wahrgenommenen Weill-Platten ungebrochen. Als einzige deutsche Künstlerin durfte Ute Lemper im Mai 1995 zum 50. Jahrestag des Kriegsendes im Beisein der britischen Königin Elisabeth II. auftreten. Sie sang das legendäre Soldatenlied „Lilli Marleen“ und trug anschließend Paul Celans Todesfuge vor. Drei Jahre später bekam sie für ihre Rolle der Velma im Broadway-Musical „Chicago” – das vom Publikum wie von den Kritikern enthusiastisch gefeiert wurde – den renommierten Laurence Olivier Award. Die „New York Times“ bezeichnete sie als den „heißesten deutschen Import seit dem Volkswagen“. Lemper war endgültig zum Weltstar geworden. Und hatte es damit auch ihren schärfsten Kritikern in Deutschland gezeigt.
„Ich definiere mich durch die Arbeit, die ich in voller Hingabe auf der Bühne tue, durch die Arbeit in ihrer Purheit und Integrität. Das ist das Territorium, das mich interessiert.“
UTE LEMPER
Ute Lemper schüttelt den Kopf. Darum sei es ihr nie gegangen. Sie definiere sich nicht durch die Öffentlichkeit, auch nicht durch Kritiken. „Ich definiere mich durch die Arbeit, die ich in voller Hingabe auf der Bühne tue, durch die Arbeit in ihrer Purheit und Integrität. Das ist das Territorium, das mich interessiert.“ So wie in diesen Wuppertaler Tagen als Anna in Pina Bauschs „Todsünden“-Choreographie. Auf der Bühne falle das Unwichtige, Alltägliche, Uninteressante weg. „Es gibt dort nur das Essenzielle. Es ist, als schöbe man das Leben durch ein Nadelöhr.“
Nappaleder-Trenchcoat in Schwarz mit Wickeldetail von Courrèges, Bleistiftrock aus Nappaleder mit seitlicher Strukturprägung und Schlitz von Jil Sander, Fell-Pumps aus dem Archiv der Stylistin von Marni, transparente Crossbody-Bag in Form einer Blumenmanschette von D’heygere
T-Shirt aus Baumwolle mit Aufdruck, Bleistiftrock mit Schößchen und Pumps mit Blumenstickerei und Knöchelriemen von Valentino
Trotz ihres großen Erfolgs am Broadway beendete Ute Lemper schon vor 25 Jahren ihre Musicalkarriere. Sie war des Genres überdrüssig, wollte sich auf das konzentrieren, was ihr wirklich wichtig erschien und was sie bis heute tut: international auf Tournee mit Shows gehen, in denen sie eigene Kompositionen präsentiert oder Musik von Jacques Brel oder Astor Piazzolla vorträgt. Zentrales Element blieb deutsche Musik aus der Zeit der Weimarer Republik. Eines ihrer liebsten Programme: „Rendezvous mit Marlene“. In dem selbstgeschriebenen Stück hat sie ihre Begegnung mit Marlene Dietrich verarbeitet.
Als Ute Lemper 1987 von manchen Medien zur „neuen Dietrich“ ernannt wurde, schrieb sie der Diva einen Brief, um sich für solche Vergleiche zu entschuldigen und ihr zu versichern, es gebe nur eine Marlene. Kurz darauf rief Dietrich, die damals in selbstgewählter Isolation in ihrer Pariser Wohnung lebte und nur noch per Telefon mit der Außenwelt Kontakt hielt, Ute Lemper an. Es war ein sehr langes Gespräch. „Ich war natürlich ehrfürchtig und habe ein paar Fragen gestellt, was sie aber nicht goutierte, denn das sei doch kein Interview.“ Marlene habe sie in dem Drei-Stunden-Monolog in ihr Universum, in ihre Geschichte hineingezogen. Sarkastisch, ironisch, vor allem aber melancholisch sei die Dietrich gewesen. „Sie hat Deutschland so vermisst, und sie war zugleich so enttäuscht.“ Immer wieder habe sie gesagt: „Die wollen mich ja nicht zurück.“
„Ich bin Deutsche und New Yorkerin. Ich liebe New York, aber ich bin überhaupt nicht amerikanisch.“
UTE LEMPER
Dieser Satz ist die Seele des Stücks „Rendezvous mit Marlene“, mit dem Ute Lemper in diesem Jahr schon in Berlin aufgetreten ist, das sie im Mai in New York gezeigt hat und das sie im Dezember dreimal im Théâtre de la Concorde in Paris spielen will. In den Monaten davor ist sie Dutzende Male in Amerika, Kanada und Europa unter anderem mit ihrem eigenen Album „Time Traveler“ und vor allem auch mit „Ute Lemper sings Kurt Weill“ unterwegs. Zwischendurch geht es immer wieder zur Familie nach New York. Dort lebt Lemper mit ihrem zweiten Ehemann und den zwei jüngsten ihrer vier Kinder. So sehr sie es genieße, auf der Bühne zu stehen, so sehr freue sie sich jedes Mal, wieder nach Hause zu kommen. „Nach Hause, das ist New York, nicht Amerika. Ich bin Deutsche und New Yorkerin. Ich liebe New York, aber ich bin überhaupt nicht amerikanisch.“
Das Amerika unter Präsident Donald Trump findet sie schockierend. Kaum ein Tag vergehe ohne unglaubliche Neuigkeiten. Ja, es könne sein, dass der Tag kommt, an dem sie nicht mehr in den Vereinigten Staaten leben möchte. Einfach so die Zelte abbrechen, das gehe schon wegen ihres jüngsten Sohns nicht, der 14 Jahre alt ist und die Schule in New York zu Ende machen will. Aber ein zweites Standbein in Europa kann sich Ute Lemper vorstellen. In Berlin oder Paris. Keinesfalls aber in ihrer Heimatstadt. „Münster hat einen lieben Platz in meiner Seele, als Stadt meiner Kindheit und Jugend, meiner mittlerweile gestorbenen Eltern, meines Bruders, meiner Tanten, Onkel, Nichten, Neffen, Cousins und Cousinen. Aber es ist die Stadt, die ich lange hinter mir gelassen habe.“
Fotografie: Eva Baales
Styling: Leonie Volk
Kreativdirektion: Leonie Volk
Produktionsleitung: Ronja Prinz (Studio 11:40)
Produktion: Mara McMaster (Studio 11:40)
Make-up Artist: Florina Vyas
Hair Stylist: Taii Schmoll (Nina Klein Agency)
Setdesigner: Stefanie Grau
Lichttechniker: Robin Diehl
Schneiderin: Anke Kauermann
Styling-Assistenz: Brittany Belo und Haruka Suzuki
Foto-Assistenz: Lorenz Schürk
Produktionsassistenz: Claire Hannon (Studio 11:40)