Wie neue Technologien den Alltag von Patienten verbessern |ABC-Z

Fast zwei Jahrzehnte dauerte es, bis Jürgen Volbracht seinen Diabetes wirklich ernst nahm. Schon mit Ende 40 waren seine Blutzuckerwerte so stark erhöht, dass er täglich Medikamente nehmen musste. „Darüber machte ich mir damals aber keine Gedanken, denn sonst ging es mir gut“, erzählt der heute Siebzigjährige. „Meine hohen Blutzuckerwerte hatten sich schleichend über die Jahre entwickelt – ohne dass ich davon etwas mitbekam.“ Ein solcher Verlauf ist typisch für viele Diabetespatienten.
Bereits als Jugendlicher kämpfte Vollbracht mit starkem Übergewicht, schaffte es aber irgendwann abzunehmen. Erst als er nach dem Jurastudium während des Referendariats drei Monate in den USA verbrachte, legte er wieder zwölf Kilo zu. „Trotz eines Auslandsstipendiums hatte ich kaum Geld und ernährte mich von billigem Fast Food“, erinnert er sich. Zurück in Deutschland zeigte die Waage 102 Kilo bei 1,90 Meter.
Der Anwalt aus Solingen versuchte Diäten und Ernährungsumstellungen, fiel aber immer wieder in alte Muster zurück und nahm stetig zu, bis er schließlich 152 Kilo wog. Dank der Medikamente waren seine Blutzuckerwerte stabil, doch sein starkes Übergewicht führte zu chronischen Rückenschmerzen, die Anfang 2023 so schlimm wurden, dass er auf eine Behandlung am Schmerzzentrum der Uniklinik Essen hoffte. Mit der Nebendiagnose Diabetes trat er seinen stationären Aufenthalt an – ein zunehmendes Phänomen.
„Oft wird Diabetes als Nebendiagnose übersehen“
„Mindestens jeder vierte Krankenhauspatient ist von Diabetes betroffen“, sagt Professor Susanne Reger-Tan, Direktorin der Klinik für Diabetologie und Endokrinologie am Herz- und Diabeteszentrum NRW, Bad Oeynhausen, der bundesweit größten universitären Diabetologie. „Oft wird Diabetes als Nebendiagnose übersehen und unzureichend behandelt. Diabetes ist aber mit einem höheren Risiko für Komplikationen wie postoperativen Wundinfektionen verbunden“, sagt Reger-Tan. „Patienten mit Diabetes bleiben durchschnittlich länger im Krankenhaus und haben ein höheres Risiko für einen ungünstigen Verlauf nach der Entlassung.“
Um die Versorgung von Menschen mit Diabetes im stationären Bereich zu verbessern, hat Reger-Tan deshalb das „Smart Diabetes Care“-Programm entwickelt. Es nutzt digitale Technik wie Glukosesensoren, um die Glukose kontinuierlich zu überwachen – mit dem Ziel, personalisierter zu behandeln, Komplikationen zu vermeiden und Heilungsverläufe zu verbessern, auch bei knappen personellen Ressourcen. Das Programm könnte zur Bewältigung der Folgen von Diabetes beitragen. Das wäre eine Errungenschaft für eine Zeit, in der Diabetes eine der größten gesundheitlichen Herausforderungen ist.
Immer mehr Patienten, immer weniger Personal
Aktuell leben rund neun Millionen Menschen in Deutschland mit der Erkrankung. Bis 2040 könnten es voraussichtlich zwölf Millionen sein. Gleichzeitig sinkt mit dem Wandel des Gesundheitssystems die Zahl der Diabetologen, und es fehlt an diabetologisch geschultem Pflegepersonal, um eine qualitativ hochwertige Versorgung der Betroffenen sicherstellen zu können. Die gute Nachricht: In kaum einem anderen Fachgebiet profitieren die Patienten derart von digitaler Technologie und medizinischen Innovationen.
Grundsätzlich wird zwischen zwei Diabetesformen unterschieden: Typ 1 ist eine Autoimmunerkrankung, bei der das Immunsystem die Insulin produzierenden Zellen der Bauchspeicheldrüse angreift, was zu einem Insulinmangel führt. Typ 2 entwickelt sich über Jahre, oft ohne Symptome. Etwa 95 Prozent aller Menschen mit Diabetes leiden unter dieser Form der Stoffwechselerkrankung. Sie betrifft vor allem ältere Menschen, aber zunehmend auch Jüngere mit Übergewicht und ungesunder Lebensweise: Die Insulinproduktion funktioniert noch. Allerdings reagieren die Körperzellen zunehmend unempfindlich auf Insulin, und die Bauchspeicheldrüse produziert oft zu wenig Insulin. Dadurch steigt der Blutzuckerspiegel. „Wer mit 50 Jahren erstmals die Diagnose Diabetes erhält, hat statistisch gesehen eine um elf Jahre verkürzte Lebenserwartung im Vergleich zu Gleichaltrigen ohne die Erkrankung“, erklärt Reger-Tan.
„Langfristig begünstigt ein dauerhaft erhöhter Blutzuckerspiegel Gefäßverkalkungen, Nervenschädigungen und damit verbundene Folgeerkrankungen wie Herzinfarkte, Erblindung oder Nierenversagen bis hin zur Dialysepflicht. Zudem steigt das Risiko für schlecht heilende Wunden, die im schlimmsten Fall zu Amputationen führen können. Selbst das Krebsrisiko ist bei Diabetes erhöht“, warnt die Fachärztin.
Sven Lehmann will vorbeugen
Sven Lehmann hofft, dass ihm das alles erspart bleibt. Der Informatiker, der eigentlich anders heißt, ist noch nicht an Typ 2 erkrankt – weiß aber, dass er bedingt durch sein starkes Übergewicht ein hohes Risiko hat, Diabetes zu entwickeln. „Ich bin ein emotionaler Esser“, erzählt der zweifache Vater, der mit seiner Familie in der Nähe von Freiburg lebt. „Bei Stress oder nach Auseinandersetzungen habe ich oft das Verlangen nach süßen Snacks.“
Als die Waage vor ein paar Monaten 156 Kilo zeigte, beschloss er, die Reißleine zu ziehen. Sechs Wochen lang verbringt der 38-Jährige nun im Rehazentrum Bad Kissingen, das spezialisiert ist auf die Behandlung von Diabetes und Adipositas. „Eine häufig übersehene Ursache für Typ-2-Diabetes sind Essstörungen, die zu unkontrollierter Gewichtszunahme führen“, sagt der Ärztliche Direktor der Klinik, Klaus Herrmann.
Bislang ist Diabetes nicht heilbar
Eine Untersuchung ergab, dass rund 60 Prozent der Patienten, die mit Typ-2-Diabetes oder Adipositas in seine Rehaklinik kamen, unter einer emotionalen Essstörung leiden. „Diese beeinflusst ihr Ernährungsverhalten so stark, dass sie ihr Gewicht nicht mehr kontrollieren können“, erklärt Herrmann. „Bevor eine erfolgreiche Diabetesbehandlung erfolgen kann, muss daher oft zuerst die Essstörung therapiert werden.“
Sven Lehmann besucht in der Rehaklinik Ernährungskurse genauso wie verhaltenstherapeutisch orientierte Kurse für Übergewichtige, trainiert Verfahren zur Entspannung und Stressbewältigung und versucht, durch Gymnastik, Nordic Walking und Ausdauertraining im Park wieder in Bewegung zu kommen. „Das tut mir so gut, dass ich momentan kein Bedürfnis nach Süßigkeiten habe“, erzählt er. Sechs Kilo hat Lehmann in den ersten drei Wochen seines Aufenthalts bereits abgenommen. Er hofft, dass es noch mehr werden und es ihm gelingt, sich später zu Hause auch weiterhin gesund zu ernähren und ausreichend Bewegung in seinen zeitintensiven Arbeitsalltag zu integrieren.
Längst ist erwiesen, dass der Lebensstil eine zentrale Rolle bei der Prävention und Behandlung spielt. Bislang ist Diabetes nicht heilbar. Allerdings ist es möglich, dass die Erkrankung bei Typ 2 keine oder nur leichte Symptome verursacht, obwohl sie weiterhin besteht. Mediziner sprechen in diesem Fall von einer Remission: Die Blutzuckerwerte liegen über einen längeren Zeitraum im normalen Bereich, ohne dass Medikamente genommen werden müssen. Mediziner schätzen, dass die Insulinresistenz bei etwa 90 Prozent aller Menschen mit Diabetes durch Übergewicht hervorgerufen wird. „Abnehmen und eine Steigerung der körperlichen Aktivität kann die Wirkung des Insulins verbessern und den Blutzuckerspiegel senken“, sagt Experte Herrmann.
Neue Medikamente habe eine neue Ära eingeleitet
Die Basismaßnahmen der Diabetestherapie bestehen deshalb schon lange aus gesunder Ernährung, regelmäßiger Bewegung, Gewichtsreduktion und dem Verzicht auf schädigende Einflüsse wie Rauchen. Wenn eine Veränderung des Lebensstils nicht genügt, um die Blutwerte zu normalisieren, kommen ergänzend blutzuckersenkende Medikamente zum Einsatz. Das Standardmedikament ist Metformin. Es senkt den Blutzucker, indem es die Neubildung und Abgabe von Glukose in der Leber hemmt. Zudem fördert der Wirkstoff die Zuckerverbrennung im Muskel- und Fettgewebe.
„Die Entwicklung neuer Medikamente hat aber eine völlig neue Ära in der Diabetestherapie eingeleitet“, sagt Diabetologin Reger-Tan. „Zum einen, weil sie eine bisher unerreichte Wirksamkeit bieten, aber vor allem, weil sie Organe schützen und damit weit mehr als nur den Blutzuckerspiegel beeinflussen. Diese Substanzen senken das Risiko für Herzinfarkte, verhindern Herzinsuffizienz und verlangsamen die Verschlechterung der Nierenfunktion. Sie können dazu beitragen, dass sich die Leber regeneriert, das Schlafapnoe-Syndrom so weit reduziert wird, dass einige Patienten keine Atemmaske mehr benötigen, und dass blutdrucksenkende Medikamente verringert werden können.“
Zu diesen Medikamenten gehören die überall erwähnte Abnehmspritze, deren Wirkstoff ursprünglich für Diabetespatienten genutzt wurde. Sie senken den Blutzucker, reduzieren den Appetit, verlangsamen die Magenentleerung und bieten Schutz für Herz, Gefäße und Nieren.
Gleichzeitig eröffnen digitale Technologien neue Möglichkeiten, das Diabetesmanagement im Alltag spürbar zu erleichtern: Ohne nerviges Fingerstechen misst ein Diabetessensor kontinuierlich den Glukosegehalt im Unterhautfettgewebe und überträgt die Werte drahtlos an ein Lesegerät oder Smartphone. Der Sensor ist so groß und dick wie zwei übereinander liegende Fünf-Cent-Münzen. Beim Befestigen an der Rückseite des Oberarms schiebt sich eine feine, biegsame und sterile Spitze dicht unter die Haut. Einmal fixiert, misst und speichert der Sensor 15 Tage lang automatisch jede Minute die Glukosewerte. Bei Typ 1 übernimmt die Kasse die Kosten, bei Typ 2 nur bei intensivierter Insulintherapie, also bei täglich mindestens vier Injektionen.
Möglichkeiten der digitalen Versorgung nehmen zu
Zunehmend werden auch smarte Insulinpens in die digitale Diabetesversorgung integriert. Im Gegensatz zu den bisherigen Insulinpens speichern die Smartpens automatisch Menge und Zeitpunkt der Insulininjektion und übertragen die Daten an eine App auf dem Smartphone. Dort lassen sie sich auswerten, mit Blutzuckerwerten oder Mahlzeiten verknüpfen und helfen so, Muster zu erkennen und die Therapie besser anzupassen.
Menschen mit Typ-1-Diabetes profitieren besonders von dem innovativen Closed-Loop-System: Ein Sensor unter der Haut misst permanent die Gewebeglukose; eine Pumpe gibt das benötigte Insulin automatisch ins Blut der Betroffenen ab. Die Pumpe übernimmt somit die Funktion der Bauchspeicheldrüse. Dadurch wird auch das Risiko für schwere Unterzuckerungen deutlich reduziert, da das System in Echtzeit auf Veränderungen des Blutzuckerspiegels reagiert und gegebenenfalls die Insulinzufuhr anpasst, bevor eine kritische Unterzuckerung – eine sogenannte Hypoglykämie – eintritt.
Bislang gab es für Menschen, die Warnzeichen einer Unterzuckerung nicht mehr spüren und ständig Angst vor Bewusstseinsverlust hatten, nur eine Hoffnung: eine Inselzelltransplantation. Diese Organtransplantation wird bundesweit einzig am Universitätsklinikum Carl Gustav Carus Dresden durchgeführt. Durch die Übertragung von Inselzellen aus der Bauchspeicheldrüse eines Spenders „kann der Körper des Empfängers wieder selbst Insulin produzieren“, sagt Professor Stefan Bornstein, Direktor des Zentrums für Innere Medizin sowie der Medizinischen Klinik und Poliklinik III der Uniklinik Dresden. „Dies ermöglicht es den Betroffenen auch, Unterzuckerungen rechtzeitig zu spüren.“
Allerdings benötigen diese Patienten lebenslang Immunsuppressiva, damit ihr Körper die fremden Zellen nicht abstößt. „Diese Medikamente bringen erhebliche Risiken mit sich, wie eine erhöhte Infektanfälligkeit und Tumorneigung“, erklärt Professor Barbara Ludwig, die das Inseltransplantationsprogramm leitet.
Forschende arbeiten an sogenannten Verkapselungssystemen
Um Menschen mit Typ-1-Diabetes eine Insulinproduktion ohne Immunsuppression zu ermöglichen, arbeiten Forschende weltweit – darunter auch die Gruppe an der Uniklinik Dresden – an sogenannten Verkapselungssystemen. „Das Ziel ist, die insulinproduzierenden Zellen vor dem Immunsystem abzuschirmen, ohne dass Medikamente zur Unterdrückung der Abwehrreaktion nötig sind“, erklärt Ludwig. Gelingt das, könnten Inseltransplantationen in Zukunft eine realistische Alternative zur Insulintherapie für Patienten mit Typ-1-Diabetes werden.
Jürgen Volbracht hat das Abnehmen ohne Medikamente nicht geschafft und mittlerweile zur Abnehmspritze gegriffen. Sie brachte bei ihm tatsächlich die erhoffte Verbesserung: In den vergangenen beiden Jahren verlor er 45 Kilo – in seinem Fall ohne große Nebenwirkungen. Seine Rückenschmerzen sind auch verschwunden, und er kann nun wieder längere Spaziergänge mit seiner Frau und ihren beiden Hunden unternehmen. „
Das Medikament hat einen Schalter in meinem Kopf umgelegt“, erzählt er. „Endlich habe ich wieder ein normales Essverhalten entwickelt.“ Durch die immense Gewichtsabnahme und die nachhaltigen Veränderungen in seinem Lebensstil hat sich auch sein Diabetes verbessert: Sein Langzeitzucker liegt jetzt fast im Normbereich.