80 Jahre Israelitische Kultusgemeinde München: Über die Hoffnung in verstörenden Zeiten – München | ABC-Z

„Es muss eine übermenschliche Kraft gewesen sein, die die Männer und Frauen am 15. Juli 1945 angetrieben hat, diese israelitische Kultusgemeinde zu gründen“: Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, zeigt sich am Dienstagabend in der Hauptsynagoge Ohel Jakob in München berührt. Berührt von der „Hoffnung in einer hoffnungslosen Zeit“, die sich damals entfaltete – in den Trümmern des jüdischen Lebens in Deutschland, in der blanken Verzweiflung im Angesicht der Schoa.
„She’erit Hapleta“ – der gerettete Rest, so nannten sich die Jüdinnen und Juden, die den Holocaust überlebt hatten. Es waren die Insassen aus den Konzentrationslagern, befreite Zwangsarbeiter, Überlebende der Todesmärsche – und ein zwölfjähriges Mädchen, das damals Charlotte Neuland hieß und mit unglaublichem Glück die Verfolgung durch die Nationalsozialisten überlebte. Als Charlotte Knobloch wurde sie später zur präsenten, geliebten und verehrten Präsidentin der Kultusgemeinde und zur Münchner Ehrenbürgerin.
Mit einem großen Festakt feiert die Israelitische Kultusgemeinde München und Oberbayern (IKG) in der Hauptsynagoge auf dem St.-Jakobsplatz zwei Jahrestage. Die Wiedergründung vor 80 Jahren und den Beginn der Präsidentschaft von Charlotte Knobloch vor 40 Jahren. Es sind die Spitzen der Politik und der Gesellschaft, die dort unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen zusammentreffen, um eine Gemeinde und eine Frau zu ehren, die, so Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CDU), „mutig und prägend“ vorangegangen seien, Haltung gezeigt hätten – und zeigen.
Julia Klöckner mahnt bei ihrer Ansprache mit Blick auf offenen Antisemitismus, dass jüdisches Leben erneut bedroht werde. „Wir haben diese Unfreiheiten zugelassen und ‚Wehret den Anfängen‘ vergessen“, sagt sie.
Jüdische Menschen in Deutschland müssten ihre Religion wieder verschweigen, so Klöckner. Es sei „längst wieder etwas aus dem Gleichgewicht geraten“. Diese Entwicklung habe die Gesellschaft durch zu langes Schweigen befördert, „insbesondere wenn Antisemitismus als ‚Israelkritik‘ verharmlost wurde“. Judenhass komme in Deutschland „von rechts, von links, und oft aus religiösem Eifer“. Eine tolerante Gesellschaft dürfe das nicht hinnehmen.
Es ist ein Festakt im Herzen der Stadt, bei dem das Ensemble des Jewish Chamber Orchestra Munich spielt. Es ist eine feierliche, würdige Veranstaltung, in der starke und stärkende Worte, Unterstützung und unbedingte Solidarität laut werden – von der Bundestagspräsidentin, der Landtagspräsidentin, dem bayerischen Ministerpräsidenten, dem Oberbürgermeister, Kirchenvertretern, Botschaftern, Konsuln Ministerinnen, Publizisten.
:Das jüdische Wunder von München
Nur 68 Tage nach Ende des Holocaust gründen Überlebende die Israelitische Kultusgemeinde neu. In der früheren „Hauptstadt der Bewegung“ floriert das jüdische Leben mit eigenen Zeitungen, einem Gymnasium – und einem „Palästina-Express“.
Es ist ein Festakt in verstörenden Zeiten. Zeiten, in denen allein in München im vergangenen Jahr 188 Fälle judenfeindlicher Hasskriminalität zur Anzeige gebracht wurden. Und dann ist da die hohe Dunkelziffer: Laut Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (Rias) Bayern wurden im Stadtgebiet 846 Vorfälle gemeldet, darunter zehn Angriffe und 18 Bedrohungen. Bei 730 Vorfällen handelte es sich um israelbezogenen Antisemitismus.
Es ist ein Festakt, an dem Menschen wie Steven Guttmann, Geschäftsführer der IKG, teilnehmen, welcher sagt, dass er seit dem 7. Oktober 2023, dem Tag des Hamas-Terrorangriffs auf Israel, aus Sorge vor Übergriffen lieber nur ein kleine, unauffällige Kippa in der Farbe seiner Haare trage. Oder Eva Ehrlich, einst Vorsitzende der kleinen liberalen jüdischen Gemeinde Münchens, die erzählt, dass sie es vermeide, als Jüdin erkennbar zu sein. Sie trage keinen Davidstern mehr als Schmuck um den Hals.
Es ist eine Feierstunde nach einer aufgewühlten Woche, in der die Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs, dass der ehemalige Personenschützer von Charlotte Knobloch trotz antisemitischer Hetze in den Polizeidienst zurückkehren darf, nachhallt und immer noch bundesweit für Kritik sorgt.
Eine Straße zu Ehren von Fritz Neuland
Es ist eine Zusammenkunft in einer Synagoge, deren Besucher am Ende der Woche, zum Freitagabend-Gebet, mittels einer organisierten Menschenkette geschützt werden sollen vor den Teilnehmern einer gleichzeitig angekündigten Demo von „Palästina spricht“. Die Sorge ist spürbar in der Synagoge.
Die IKG München ist mit rund 9300 Mitgliedern die größte in Deutschland. Charlotte Knobloch, 92, deren Vater Fritz Neuland nur zwei Monate nach dem Ende des NS-Regimes und des Holocaust zu den Mitbegründern gehörte, sagt, dass dieser der Überzeugung gewesen sei, dass jüdisches Leben zu Deutschland gehöre. „Das sahen damals die meisten jüdischen Menschen anders. Aber ich sage heute: Seine Entscheidung war richtig.“ Ihr Appell anlässlich des 40-jährigen Amtsjubiläums: „Mein Wunsch ist es, dass jüdische Menschen in diesem Land wie alle anderen auch frei und sicher leben können. Dafür werde ich mich weiter mit aller Kraft einsetzen.“
Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) kündigt an dem Abend an, nach Fritz Neuland am Jakobsplatz als Zeichen der Würdigung in Kürze eine Straße zu benennen. Man dürfe und werde im Rathaus nicht einfach zur Tagesordnung übergehen, angesichts der im Mai vorgestellten Studie über jüdisches Leben und Antisemitismuserfahrungen in München durch die Fachstelle für Demokratie.

„Sie zeigt deutlich, wie sehr sich die Lage für viele Jüdinnen und Juden vor und besonders nach dem furchtbaren Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023 verschärft hat. Viele sprechen von einem tiefen Bruch, der ihr Vertrauen in die Gesellschaft erschüttert habe; dass das Sicherheitsgefühl verschwunden sei; dass sich unter ihnen Gefühle und Reaktionen breitmachten wie Ohnmacht, Verzweiflung, Angst und Rückzug, aber auch Wut und ein erstarktes jüdisches Selbstverständnis“, sagt Reiter.
Das herausragende Engagement für Versöhnung und Verständigung von Charlotte Knobloch müsse eine immerwährende Verpflichtung sein, jüdisches Leben zu schützen und den Anfeindungen mit aller Entschiedenheit entgegenzutreten, so Münchens Oberbürgermeister.
Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) sagt, er kenne „keine Frau, die so tapfer und entschlossen ist – und einen so unbeugsamen Geist hat“. Welch ungeheure Kraft müsse dahinterstecken, wenn man sich entscheide, noch einmal zu vertrauen? Er wendet sich direkt an Charlotte Knobloch: „Sie haben nicht nur Jüdinnen und Juden neue Hoffnung gegeben, sondern der gesamten deutschen Gesellschaft.“
Landtagspräsidentin Ilse Aigner (CSU) feiert in ihrer Rede „das unglaublichste Geschenk an unser Land“: Menschen wie Fritz Neuland hätten es sich nicht nehmen lassen wollen, „dass dies dereinst ihre Heimat war – und wieder werden könnte“. Sie kenne „keinen stärkeren Patriotismus“. Aigner bezeichnete Knobloch als „unsere jüdische Bavaria“, als Leitfigur, Mahnerin und Mutmacherin.
Charlotte Knobloch sagt gegen Ende des Festaktes, nach einem Festvortrag des Publizisten Michel Friedmann über enttäuschte Hoffnung, eindringlich: „Die jüdische Gemeinschaft hat gerade nicht viel zu feiern. Wenn wir ehrlich sind, hatten wir das nie. Es ist aber fester Bestandteil unserer Religion. Wir feiern das Leben. Wir feiern, dass es uns noch gibt.“
Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden, verneigt sich am Ende vor der langjährigen Präsidentin der IKG, die vier Jahre lang auch die jüdische Dachorganisation geleitet hatte, mit den Worten: „Charlotte Knobloch wusste es vermutlich schon mit Amtsantritt. Sie wird die letzte Person sein, die den Zentralrat führt und die Schoa überlebt hat. Auch heute noch trägt sie diese Bürde des ‚Erlebt-und-Überlebt-Habens’ mit solcher Demut, dass die große Verantwortung für die nachfolgenden Generationen greifbar wird – aufseiten der Opfer wie der Täter“.