Kommen bald 10 Geiseln unbewohnt?: “Alon soll spüren, dass er im Tunnel nicht allein ist” | ABC-Z

Es schien Bewegung in die Verhandlungen zwischen Israel und der Hamas zu kommen, Hoffnung für die Geiseln, die seit 646 Tagen in der Hand der Terroristen sind. Doch nun hat man sich in Doha am Streit über den Truppenabzug der Israelis festgebissen, das Zeitfenster für die geschätzt 20 noch lebenden Geiseln droht sich zu schließen.
Shachar Ohel bangt um seinen Neffen Alon, der heute 24 Jahre alt ist. Alon war beim Nova-Festival, das von Hamas-Terroristen am 7. Oktober 2023 überfallen wurde. Viele seiner Freunde starben an diesem Tag, die Hamas tötete 364 Raver. Alon selbst konnte zunächst vom Gelände fliehen, wurde dann aber in den Gazastreifen verschleppt.
ntv.de: Ihr Neffe Alon ist seit 21 Monaten in der Gewalt der Hamas im Gazastreifen. Was wissen Sie über seinen Zustand?
Shachar Ohel: Anfang des Jahres erhielten wir die Nachricht, dass er lebt. Vorher nichts. Mehr als ein Jahr wussten wir nichts über sein Schicksal. Als aber im Zuge des Israel-Hamas-Deals die beiden Geiseln Eli und Elija freigelassen wurden, haben sie uns angerufen und erzählt, dass sie mit Alon zusammen gefangen waren. Schon seit November 2023, mehr als ein Jahr. Sie konnten uns alles über unseren Neffen sagen, sie hatten so viel miteinander gesprochen. Die erste Nachricht für uns war gut: Alon ist am Leben. Er lebt. Aber die zweite Nachricht war hart: Es geht ihm gesundheitlich sehr schlecht.
Was haben Ihnen die beiden Männer berichtet?
Sie wurden zusammen mit Alon etwa 40 Meter unter der Erdoberfläche gefangen gehalten, vom ersten Tag an. Inzwischen ist Alon auf seinem rechten Auge erblindet. Das linke Auge wird auch schwächer. Wir fürchten, dass er sein Augenlicht komplett verliert. Wir haben mit vielen Ärzten gesprochen, und sie sagen, wenn das linke Auge nicht schnell behandelt werden kann, ist es nicht mehr zu retten.
Leiden die Augen an der Lichtsituation unter Tage?
Nein, Alon hat Granatsplitter in seinen Augen. Sie wurden beim Massaker am 7. Oktober durch die umherfliegenden Splitter getroffen. Er hatte sich auf der Flucht vom Nova-Festival in einem Schutzbunker versteckt, mit etlichen anderen. Die Terroristen warfen immer wieder Granaten hinein, die Verfolgten warfen sie wieder hinaus. Bis eine detonierte. Von der Explosion hat Alon auch viele Splitter unter der Haut. Eli und Elija haben erzählt, dass man die Splitter sehen kann und fühlen, wenn man über Alons Haut streicht. Man hat die Splitter nicht entfernt, seine Verletzungen sind nicht behandelt worden.
War sein Zustand stabil, als Eli und Elija ihn zurücklassen mussten?
Nein. Er hat die Hälfte seines Körpergewichts eingebüßt. Er wiegt unter 40 Kilo. Als Eli und Elija freikamen, sahen sie ein Plakat in Israel, an irgendeiner Straße, so ein “Bringt sie nach Hause”-Poster, mit einem Foto von Alon, aus Zeiten vor dem Massaker. Sie haben ihn nicht erkannt. Sie sagen, er sieht nicht mehr aus wie er selbst.
Kann er sich bewegen im Tunnel?
Er trägt ständig Fesseln an den Beinen, sie lagen zuletzt auf dem Fleisch. Sein Körper ist eine Ruine, haben die beiden gesagt. Bevor sie uns das erzählten, haben wir uns Alon in einem Zustand vorgestellt, wie die anderen, früher freigelassenen Geiseln waren. Natürlich waren sie gezeichnet von der Zeit, aber sie sahen okay aus. So haben wir uns Alon auch vorgestellt, damit konnten wir umgehen. Seit Jahresbeginn wissen wir aber, dass er nicht in dieser Verfassung ist. Auch Eli und Elija waren es nicht. Sie sahen völlig anders aus als die anderen Geiseln. Weil sie an einem schlimmen Ort eingesperrt waren und hungern mussten.
Ließen die Terroristen die drei absichtlich hungern?
Ja. Eli und Elija haben erzählt, dass sie Essenskartons gesehen haben, die in den Tunneln transportiert wurden. Auf den Kartons stand der Name des Palästinenserhilfswerks der Vereinten Nationen, UNRWA. Die Terroristen haben direkt vor ihnen gegessen, aber die drei bekamen nichts. Sie konnten nicht duschen, sie wurden nicht versorgt. Wir wissen das alles. Wir können uns für Alon nichts Gutes mehr einbilden. Wir wissen, er hungert, er wird blind, er ist in großer Gefahr und wir müssen ihn da rausholen.
Israels Premier Benjamin Netanjahu hat von Anfang an auf das Militär gesetzt, das sehr massiv in Gaza vorgeht. Geisel-Deals hat es wenige gegeben. Wie beurteilen Sie sein Vorgehen.
Ich möchte zu diesen politischen Fragen keine Stellung nehmen. Ich bitte dafür um Ihr Verständnis.
Verfolgen Sie die aktuellen Verhandlungen zwischen der israelischen Regierung und der Hamas? Die Versuche von US-Präsident Donald Trump, zu einem neuen Deal zu kommen?
Nein, wir verfolgen die Nachrichten nicht. Man hält das nicht aus. Wir haben eine Vereinbarung mit unserem Geheimdienst, mit denjenigen, die uns dort betreuen: Wenn sich irgendetwas entwickelt, was Alon betreffen würde, dann erfahren wir es als Erste. So muss ich keine Nachrichten schauen. Und ich sage meiner kleinen Tochter: “Wenn jemand in der Schule behauptet, etwas über Alon und die Geiseln zu wissen, dann vertraue darauf: Er kann nichts wissen, was du nicht weißt. Du wirst die Erste sein.” Das beruhigt. Sie und auch mich.
Haben Sie eine Strategie entwickelt, um weiterzuleben – mit dem Wissen, wie sehr Alon in der Gefangenschaft leidet?
Fast täglich sprechen wir mit Elija und Eli, die mit ihm gefangen waren. Der Gedanke quält sie, dass Alon immer noch im Tunnel ist. 500 Tage lang waren sich alle drei so nah dort unten, dann mussten sie ihn allein lassen. Ihnen hilft es, mit uns zu sprechen, und für uns fühlt es sich ein bisschen so an, als könnten wir Alon näher sein. Sie haben so viel geredet im Tunnel, sie wissen so vieles. Sie erzählen uns unsere eigenen Familiengeschichten – wie Alon sie ihnen erzählt hat, und es ist, als hörten wir ihn sprechen. Er ist Pianist. Schauen Sie mal, hier ist ein Video, auf dem er Klavier spielt. Das Mädchen neben ihm ist meine Tochter. Die beiden machen zusammen Musik. Das war unser Leben vor dem 7. Oktober.
Wie gut gelingt es Ihnen, weiterzuleben? Auch “Normalität” zu leben? Ihre Tochter braucht ja ihren Vater.
Wenn wir abends gemeinsam beim Essen sitzen – das fällt uns schwer. Gerade das Essen. Weil Alon hungert. Wir leben in einem Albtraum, so ist es einfach. Wir versuchen aber, es als Aufgabe zu begreifen. Unsere Lebensaufgabe ist es, Alon nach Hause zu holen. Seine Eltern – mein Bruder und seine Frau – haben seit dem 7. Oktober 2023 keine Minute mehr normal gearbeitet, nicht eine. Ich selbst arbeite etwa 50 Prozent. Und ja, ich kümmere mich auch um meine beiden kleinen Kinder. Ich lebe also auch ein “normales” Leben, aber die restliche Zeit kämpfe ich für Alon.
Was können Sie tun?
Ich reise zum Beispiel nach Deutschland und erinnere daran, dass Alon ein Deutscher ist. Acht Deutsche sitzen noch in Geiselhaft der Hamas. Alons Urgroßvater wurde als junger Mann aus der Gefangenschaft in Auschwitz befreit, er wog 38 Kilo, in etwa so viel, wie Alon jetzt wiegt. Er kam nach Israel, um eine sichere Zukunft für sich und seine Familie zu schaffen. Alons Leben ist nicht weniger in Gefahr als das seines Urgroßvaters vor 80 Jahren. Was wir auch tun: Wir verteilen gelbe Klaviere.

Der Starpianist Igor Levit spielte im Januar 2024 ein Konzert in Berlin auf einem der gelben Flügel.
(Foto: IMAGO/epd)
Wo das?
Auf dem Geisel-Platz – das ist ein zentraler Platz in Tel Aviv, den die Geiselfamilien für Öffentlichkeit nutzen, haben wir angefangen. Dort wird viel Musik gemacht, jeder darf spielen. Dann ist die Aktion gewachsen. Wo immer etwas stattfand, haben wir ein gelbes Klavier aufgestellt. Wir haben inzwischen mehrere Dutzend gelbe Klaviere auf der ganzen Welt verteilt. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie viele es insgesamt sind. Wir wollen Alon mit Klaviermusik Energie senden, ihn spüren lassen, dass er dort unten im Tunnel nicht allein ist.
Mit Shachar Ohel sprach Frauke Niemeyer