Wirtschaft

Grandhotel Oloffson in Haiti von Banden niedergebrannt | ABC-Z

Es gibt Lektüreeindrücke, die sich im Unterbewussten so tief verankern, dass die Fiktion die Realität überlagert oder verdrängt: Volpertshausen zum Beispiel, wo Werther mit Lotte tanzt und das Stichwort „Klopstock“ ein Sommergewitter auslöst – oder war es umgekehrt? Der Tanzboden bei Wetzlar dient heute als Goethe-Museum. Oder das Hotel Trianon in dem mit dem Traumpaar Elizabeth Taylor und Richard Burton verfilmten Roman „The Comedians“, der, von Hilde Spiel übersetzt, auf Deutsch „Die Stunde der Komödianten“ heißt.

Graham Greenes Roman spielt in Haiti unter der Diktatur des Voodoo-Doktors François Duvalier alias Papa Doc, und schon zu Lebzeiten des Autors entstand das Gerücht, bei dem in Hollywood nachgebauten „Trianon“ handle es sich in Wahrheit um das Hotel Oloffson in Port-au-Prince, zentral gelegen in Fußweite des Präsidentenpalasts und des Cinemas Rex, wo André Breton 1945 mit einem Vortrag über Surrealismus eine Revolution lostrat. Die Regierung stürzte, und René Depestre, damals ein junger Dichter, wurde nach Paris expediert, wo Jean-Paul Sartre ihn als Kronzeugen der Négritude mit offenen Armen empfing.

Er begnügte sich mit Rum

Das um 1886 errichtete Gebäude im Gingerbread-Stil diente dem haitianischen Präsidenten Guillaume Sam als Privathaus, bevor es 1935 von dem schwedischen Kapitän Walter Oloffson in ein Hotel verwandelt wurde. Dass die Gleichsetzung des Grandhotels Oloffson mit dem bescheideneren Trianon auf einem Mythos beruht, erhellt sich schon daraus, dass vier Personen die Ehre beanspruchen, den weltbekannten Romancier durch Haiti geführt und mit Land und Leuten vertraut gemacht zu haben.

Al Seitz, Manager des Oloffson, das während der US-Okkupation als Militärhospital fungierte; Herbert Gold, ein Beat-Poet aus San Francisco, der sich nach Pariser Lehrjahren in Haiti niederließ und Graham Greenes Whiskykonsum finanzierte – er selbst begnügte sich mit Rum; Jean-Claude Bajeux, ein Ex-Priester mit Kontakt zu regierungsfeindlichen Guerilleros der Gruppe „Jeune Haiti“, und Aubelin Jolicoeur, Pressesprecher von Papa Doc, den Graham Greene so schildert: „Er hatte die schnellen Bewegungen eines Äffchens und schien sich auf einem Seil von Gelächter von Wand zu Wand zu schwingen.“

Eine Romanfigur, die ihren Autor überlebt und einen Nachruf auf ihn schreibt

Jolicoeur alias Petit Pierre war eine schillernde Figur und hat die Duvalier-Diktatur überlebt, indem er auf allen Hochzeiten tanzte – im Wortsinn. Mit silbernem Spazierstock und weißem Anzug hielt er Hof im Oloffson, um Gäste auszuhorchen und haitianische Kunst zu verkaufen, die er sammelte. Das lukrative Angebot, in der Verfilmung des Buchs sich selbst zu spielen, lehnte er ab, weil es zu gefährlich war. „Ich bin die einzige Romanfigur, die ihren Autor überlebt und einen Nachruf auf ihn geschrieben hat“ – mit diesem Satz hat er sein Verhältnis zu Graham Greene kommentiert, der das Hotel Oloffson so beschreibt: „Mit seinen Türmchen und Balkonen und Verzierungen aus hölzernem Gitterwerk wirkte es nachts wie ein verwunschenes Haus (. . .) Man erwartete, dass eine Hexe oder ein irrsinniger Butler einem die Tür auftat.“ Dazu passt, dass der Vorbesitzer Guillaume Sam 1915 von einem wütenden Mob gelyncht wurde, was Washington zur Entsendung von US-Marines veranlasste.

Bill Clinton und Mick Jagger waren hier, Herbert Gold, Katherine Dunham und Bernard Diederich – es gibt kaum einen prominenten Logiergast, dessen Name nicht an einer der Zimmertüren stand, und schwerer als der materielle Verlust wiegt die Auslöschung des kollektiven Gedächtnisses, die sich nun durch Brandstiftung vollzog. Das Oloffson verkörperte Haitis wechselvolle und blutige Geschichte der letzten 110 Jahre, es gehörte zum UNESCO-Weltkulturerbe, und es ist bezeichnend, dass und wie rücksichtslos diese „historical landmark“ abgefackelt und in Schutt und Asche gelegt wurde. Zum Glück hatte der Manager Richard Morse sich mit seiner Familie auf der Flucht vor dem Bandenterror in die USA abgesetzt, und die Bewacher den Hotels brachten sich rechtzeitig in Sicherheit, sodass niemand ums Leben kam. Morse, Sohn eines amerikanischen Ethnologen und einer haitianischen Tänzerin, ist Gründer und Leiter der Voodoo-Rockband RAM, und wer die Konzerte der Gruppe donnerstags im Hotel erlebt hat, vergisst sie nie mehr: Verglichen damit ist Hip-Hop oder Rap harmloser Kinderkram.

Wer aber waren und sind die Täter, die Haitis Kulturerbe mit Füßen treten? Dazu muss man wissen, dass es auch in einem zerfallenden Staat Oligarchen gibt, die Slumbewohner, meist arbeitslose Jugendliche, mit Waffen und Drogen ködern und sich am Chaos bereichern: Geiselnahmen, Vergewaltigungen, Morde sind an der Tagesordnung: 4000 Tote in drei Monaten allein in Port-au-Prince, dazu Millionen Binnenvertriebene, oft alleinerziehende Mütter, vor dem Bandenkrieg fliehend, in dem Kindersoldaten um die Kontrolle reicher Stadtviertel und wichtiger Straßenzüge kämpfen. In einem „Boat-People-Blues“ betitelten Song hat Richard Morse Haitis Niedergang schon vor Jahren prophezeit und beschreibt ihn – hier ins Deutsche übersetzt – so: „Als ich aufstand heute Morgen / sah ich überall nur Mord und Tod / die Regierung war gestürzt / und die Straßen waren voller Blut.“

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