Ex-Profi Tony Martin im Interview: “Zeitfahren sind eine sehr schmerzhafte Erfahrung” | ABC-Z

Tourreporter
Die fünfte Etappe der Tour de France ist ein 33 Kilometer langes, flaches Einzelzeitfahren. Der ehemalige Radprofi Tony Martin, 40, war vier Mal Weltmeister in dieser Disziplin. Im Interview mit der Sportschau spricht Martin darüber, warum Remco Evenepoel derzeit der beste Zeitfahrer der Welt ist und warum der Kampf gegen die Uhr eigentlich ein Kampf gegen sich selbst ist.
Sportschau: Herr Martin, können Sie in zwei Sätzen erklären, was das Schöne an einem Einzelzeitfahren ist?
Tony Martin: Ich weiß nicht, ob zwei Sätze da ausreichen. Aber wenn ich es mal komprimieren müsste, ist es auf der einen Seite der Speed, den man ja durch eigene Muskelkraft ohne Windschatten, ohne jegliche Hilfe, mit seinem Willen und natürlich mit einem perfekten, aerodynamischen Fahrrad schafft. Und das Zweitschönste ist das Bewusstsein nach dem Zeitfahren, an die Grenze gegangen und über sich selber hinausgewachsen zu sein.
Sportschau: Wie geht man ein Zeitfahren denn an? Man weiß ja, man hat jetzt diese Strecke vor sich und es wird wehtun.
Tony Martin: Also erst mal ist die Pacing-Strategie ein ganz, ganz wichtiger Faktor. Da hängt es natürlich davon ab, ob es eine relativ lange, gleichmäßige Strecke ist. Dann kann ich natürlich versuchen, ein gleichmäßiges Niveau anzuschlagen, was meistens auch ein gleichmäßiges Schmerzniveau bedeutet.
Wenn man dagegen ein unrhythmisches Zeitfahren hat mit vielen Steigungen, vielen Abfahrten, muss man viel detaillierter in die Planung gehen. Da muss man schauen, wo muss ich über meine Dauerleistung hinausgehen, weil ich weiß, dass es nach ein, zwei, drei Kilometern wieder in die Abfahrt reingeht, wo ich wieder ein bisschen Luft holen und mich erholen kann.
Das ist sehr, sehr komplex. Aber generell muss man sich einfach vor jedem Zeitfahren bewusst sein, dass das eine sehr, sehr schmerzhafte mentale, manchmal auch körperliche Erfahrung wird, bei der man sich immer wieder ans Limit oder darüber hinaus pushen muss.
Strikter Ablauf vor dem Start
Sportschau: Wie sind Sie die Zeitfahren angegangen? Haben Sie eine spezielle Vorbereitung gehabt?
Martin: Für mich war immer sehr wichtig, dass ich meinen strikten Ablauf einhalten konnte. Das war so ein kleines Mantra von mir. Da gab es immer gleiche Abläufe: Morgens Frühstück, dann noch mal die Zeitfahrstrecke anschauen, dann noch mal ein zweites Frühstück oder ein frühes Mittagessen. Und dann natürlich das Warm-up, das auch immer mehr oder weniger zu gleichen Teilen abgelaufen ist.
Dann hatte ich immer exakt die gleiche Zeit, wann ich mich nach dem Warm-up umgezogen habe, wann ich an den Start gegangen bin, zur technischen Kontrolle des Fahrrads. Das war für mich sehr, sehr strikt. Das hat mir immer sehr, sehr viel Kraft gegeben, weil ich wusste, wenn ich mich nach diesem Schema F vorbereite, gehe ich 100 Prozent optimal vorbereitet an dem Start.
Und dann bin ich immer mit sehr viel Vorfreude an das Rennen gegangen. Ich habe mir weniger Gedanken darüber gemacht, dass es jetzt vielleicht schmerzhaft werden würde, sondern meine mentale Einstellung war immer sehr positiv geprägt, so dass ich einfach Lust hatte – überspitzt gesagt – wirklich geil war aufs Zeitfahren, mich gefreut habe auf den Speed. Natürlich hatte ich auch das Bewusstsein, dass ich in den meisten Zeitfahren als Siegkandidat an den Start gegangen bin und ich unbedingt gewinnen wollte. Das hat mich so motiviert, dass ich im Prinzip die auf mich zukommenden Schmerzen nicht vergessen, aber verdrängt habe.
Sportschau: Wenn man bei der Tour de France auf die Startrampe rollt ist das ja wahrscheinlich noch mal etwas anderes als bei anderen Rennen. Was nimmt man da oben wahr?
Martin: Man ist natürlich im Tunnel, aber nichtsdestotrotz ist die Atmosphäre so gewaltig, dass man die trotzdem mitbekommt. Ich habe trotzdem versucht, mich immer ein Stück weit abzuschotten. Man betritt die Rampe ja meistens, während der vor einem Startende gerade in der Wegfahrphase ist. Da hat man noch circa eine Minute Zeit, um sich auf der Startkante zu positionieren, sich hinzusetzen. Man wird vom Sprecher angekündigt. Und wenn dann tausende Fans applaudieren, kreischen, ist das auf jeden Fall ein absoluter Gänsehautmoment. Das hat mir dann auch nochmal diese zwei, drei extra Prozent Motivation am gegeben.
“Auf einmal ist der Superman nicht mehr da”
Sportschau: Besteht da nicht auch die Gefahr, dass man dann überpaced, weil man eben so aufgeputscht ist von der Menge?
Martin: Definitiv. Man ist dann wirklich so geil darauf, jetzt abzuliefern und jetzt zu performen, dass man dann auch mal die ersten zwei, drei Minuten so Gas gibt und dann erst mal auf seinen Power Meter schauen muss. Da stehen dann vielleicht mal 100 Watt zuviel drauf, als man sich eigentlich vorgenommen hat. Dann muss man sich zurücknehmen, weil man auf den ersten Kilometern denkt, man sei Superman, heute geht alles. Und nach fünf, sechs, sieben Minuten ist der Superman auf einmal nicht mehr da, dann kommt die Realität wieder zum Tragen. Dann hat man eventuell das Laktat in den Beinen, das man eigentlich zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht haben wollte. Insofern ist da auf jeden Fall eiserne Disziplin gefragt. Es ist wirklich fatal, sich da von der Motivation der Fans tragen zu lassen und dann schon die Körner auf den ersten Meter rauszuhauen.
Sportschau: Man rollt also von dieser Startrampe runter und es geht los. Was macht man unterwegs, was beschäftigt einen, was geht in einem vor?
“Wichtig, den Rennrhythmus zu finden”
Martin: Auf den ersten Kilometern ist es ganz wichtig, seinen eigenen Rhythmus zu finden.Wie gesagt, es ist es eine sehr aufregende Szenerie am Anfang. Man ist motiviert, man steht auf der Startrampe, das ist eine besondere Situation. Man ist vielleicht auch ein Stück weit abgelenkt. Und dann ist es ganz, ganz wichtig in diesen Rennrhythmus reinzufinden.
Dann versucht man, erstmal so in sich zurückzukommen, mit sich, mit seinem Körper im Einklang zu sein und die Pace-Strategie, die man geplant hat, dann auch wirklich auf die Straße zu bringen. Dann fühlt man sich die ersten Kilometern – so war es bei mir zumindest immer – sehr, sehr gut. Man hat den Speed, man fährt 50, manchmal 60 Stundenkilometer und kann vielleicht in dem Moment auch gar nicht einschätzen, wie die Form ist, weil man noch ein Stück weit von der Frische des Tages lebt. Aber spätestens zur Hälfte des Rennens wird man dann schon realisieren, okay, ich kann diese Pace fahren oder vielleicht auch nicht, weil die Beine einfach zugehen. Oder man hat realisiert, dass man einen wirklich guten Tag hat.
Das ist das Körperliche. Das andere ist natürlich die mentale Stärke. Man kann die besten Beine der Welt haben. Wenn man nicht bereit ist, im Kopf wirklich ans Limit zu gehen, dann nutzen die guten Beine auch nichts. Das Entscheidende ist eben, dass man keinen Fahrer vor sich hat oder auch hinter sich hat, an dem man sich im Normalfall orientieren kann. Das heißt, man entscheidet selber, wie schnell man fährt, wieviel Laktat man produziert, wieviel Schmerzen man produzieren, wieviel Schmerzen an diesem Tag verkraften will.
Das ist dieser wohlbekannte Schweinehund, den man einfach überwinden muss, wo man sich immer wieder rankämpfen muss, wo man auch sehr, sehr stark fokussiert bleiben muss. Es passiert auch ab und zu, dass man mit den Gedanken einfach abgleitet. Und mit dem Abgleiten der Gedanken fällt dann meistens auch die Power ab.
Sportschau: Lange Zeitfahren sind so ein bisschen aus der Mode gekommen bei der Tour de France, woran liegt das Ihrer Meinung nach?
Martin: Ich fand diese Entwicklung zu meiner Zeit natürlich sehr, sehr schade. Heute als Fan kann ich es ein Stück weit nachvollziehen. Es ist einfach so, dass man gerade bei den Zeitfahren teilweise enorme Zeitabstände generieren kann, größere Zeitabstände, als am Berg. Insofern kann ich die Tendenz definitiv verstehen, dass man mit kürzeren Zeitfahren versucht, diese Zeitabstände klein zu halten, aber gleichwohl die Tradition des Zeitfahrens schon auch noch bewahren will.
“Remco hat eine außergewöhnlich gute Position”
Sportschau: Der beste Zeitfahrer der Welt ist im Moment wohl Remco Evenepoel, der Weltmeister und Olympiasieger in dieser Disziplin. Er ist auch der große Favorit für das erste Zeitfahren bei der Tour. Was erkennt der ehemalige Weltmeister Tony Martin in Evenepoel?
Martin: Natürlich hat Remco erstmal enorme mentale Stärke. Er steht als Weltmeister am Start des Zeitfahrens und weiß, ich bin der Beste der Welt, das Profil ist auf mich zugeschnitten und heute kann ich gewinnen, heute werde ich gewinnen. Das habe ich in den letzten Monaten immer wieder bewiesen. Wenn du in den Weltmeistertrikots startest, das verleiht einfach Flügel, genauso wie das Gelbe Trikot, das habe ich selbst erlebt.
Remco ist auch aerodynamisch ganz klar gegenüber allen anderen Fahrern im Vorteil. Er hat eine außergewöhnlich gute Position, was besonders auf flachen Kursen ein Vorteil ist. Zudem würde ich sagen, dass der einen sehr, sehr hohen Power-Output über eine Stunde hat, wahrscheinlich höher als seine Konkurrenten, auch wenn das ist im Detail schwer zu beurteilen ist.
Ich denke, diese Kombination von Power und Aerodynamik ist ganz klar die Grundvoraussetzung, dass er so stark im Zeitfahren performen kann, besonders im Flachen. Bei hügeligeren Zeitfahren könnte die Tendenz allerdings zu Jonas Vingegaard oder Tadej Pogacar kippen.
Sportschau: Sie haben Pogacar und Vingegaard angesprochen. Beide haben schon exzellente Zeitfahren bei der Tour de France abgeliefert.
Martin: Ja, das komische ist ja immer, dass die ganzen Rundfahrer unheimlich gut bei Zeitfahren während der großen Rundfahrten performen können. Wenn Tadej Pogacar bei den Weltmeisterschaften am Start stehen würde, weiß ich gar nicht, ob er da ganz ganz vorne mitfahren würde. Ich hatte gerade mal geguckt, bei meinem letzten Zeitfahren bei der WM (2021, Anm. d. Red.), war er doch ein ganzes Stück hinter mir. Beim gleichen Zeitfahren bei der Tour de France wäre er mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit vor mir gewesen.
Ich denke, Pogacar oder auch Jonas Vingegaard, schaffen es einfach, die Vorbelastung der vorhergegangenen Etappen so gut zu verkraften oder vielleicht sogar dort Form aufzubauen, dass sie die Lücke zu den klassischen Zeitfahrern schließen können. Während ein klassischer Zeitfahrer eher ermüdet an den Start geht, gehen diese Jungs zumindest in der ersten ein, zwei Wochen der Tour de France dann doch noch relativ frisch an den Start und können dementsprechend auch um die Siege mitfahren.
Nichtsdestotrotz glaube ich schon, dass jetzt die fünfte Etappe bei der Tour eher für diesen klassischen Zeitfahrtypen zugeschnitten ist und da doch ein relativ großer Abstand zu den klassischen Zeitfahrern zustande kommen könnte.