Lucile Richardot singt Hofmusik des Schwedenkönigs Karl XI. | ABC-Z

Wie keck! Nach elf Zeilen gottesfürchtigen Flehens schwingt sich Franz Tunders Komposition „Ack Herre, låt dina helga änglar“ zu einem unerhörten Angebot auf: Die heiligen Engel, so die Bitte, mögen die Seele der Singenden dermaleinst zu Abrahams Schoß begleiten, der Leib in Frieden bis ans Ende aller Zeiten ruhen, um dann, wiedererweckt, vor das Antlitz Gottes zu treten. So weit, so unauffällig für ein geistliches Lied der Barockzeit.
„Herre Jesu Krist, bönhör mig“, erhöre mich, heißt es weiter: „Så vill jag prisa dig i evighet“. Und bei diesem Versprechen ewigen Lobpreisens im Gegengeschäft mit ewigem Seelenheil schwingt sich die eben noch wie mit geneigtem Haupt gesungene Stimme zu den schönsten Melismen auf. „Sieh, mein Gebieter, was ich zu bieten habe“, scheinen die Wellen und Wendungen vermitteln zu wollen: Ist Seelenheil dafür wirklich zu viel verlangt?
In Schweden schätzte man die Vielfalt
Wenn Lucile Richardot diese Zeilen singt, wird es hell, wird es warm und lebendig. Gerade ist sie – mit dem Gedanken an die „dödsstund“, die Todesstunde – in die bewegenden Tiefen ihres Mezzosoprans hinabgestiegen, in Klangfarben, die das Irdene, die Kühle des Grabs mit der erhofften Geborgenheit im Schoße Abrahams vereinigen. Jetzt bietet sie eine Kostprobe ihres Preisens, deren Selbstbewusstsein seinesgleichen sucht. Wer so singt, will nicht nur vor das Angesicht Gottes treten, sondern selbst von ihm gesehen werden. Und wer so singt, kann im Himmel nicht unerhört bleiben.
Der Komponist Franz Tunder war bis 1641 Hoforganist des Herzogs Friedrich III. auf Schloss Gottorf in Schleswig, danach bis zu seinem Tod im Jahr 1667 Organist an der Lübecker Marienkirche. Dass die Französin Richardot sein für eine Begleitung aus vier Streichern und Orgel geschriebenes Stück auf dem mit dem Ensemble Correspondances eingespielten Album „Northern Light“ auf Schwedisch singt, hat seinen Grund: Die Fassung findet sich in der Sammlung, die der schwedische Kapellmeister Gustav Düben mit seiner Familie am Hof König Karls XI. angelegt hatte.
Mit Blick auf den französischen Sonnenkönig Ludwig XIV. wurde Karl XI. in Schweden als „Sonne des Nordens“ verehrt – oder gleich, schließlich blieb es ja auch in Teilen seines Königreichs um Mittsommer herum rund um die Uhr hell, als „sol inocciduus“. Während in Versailles ein einheitlicher Musikstil bevorzugt wurde, schätzte man in Schweden die Vielfalt: Deutsche, französische, italienische Musiker spielten bei Hofe, sie brachten Werke mit, die Eingang fanden in die Sammlung Düben.
Für „Northern Light“ haben Lucile Richardot und der Organist und Dirigent Sébastien Daucé elf Kompositionen ausgewählt, die – bis zur Trauermusik „Das klagende Schweden-Reich“, dem letzten Stück auf dem Album – am Hofe des Nordsonnenkönigs gespielt worden sein werden, mit deutschen, lateinischen und italienischen Texten. Und in zwei Fällen auch mit schwedischen: Dass für die Lieder Franz Tunders und Johann Kriegers Übersetzungen angefertigt wurden, zeugt von der Bedeutung, der bei Hofe auch dem Textverständnis zugeschrieben wurde – vom lebensfrohen Lobgesang bis zum getrosten Sterben.

Christian Geist, von 1670 bis 1679 Mitglied der schwedischen Hofkapelle, findet in „Es war aber an der Stätte, da er gekreuziget ward“ zur Erschütterung des Opfertodes Christi eine chromatische Melodieführung zu Wörtern wie „beklagen“ und „gestorben“, die den Schmerz fast spürbar macht. Und in „Herr, wenn ich nur dich habe“ verschiebt der Heinrich-Schütz-Schüler David Pohle die Akzente der wiederholten Titelzeile so, dass es erst um das angebetete göttliche Du, dann – mit Betonung auf „habe“ – um die Inbrunst des Glaubens geht.
Das ist feine Musik, in all ihrer Schlichtheit und Schwere, vom Ensemble Correspondances mit angemessenem Gewicht, mit großer Ruhe, mit gebührendem Platz selbst für Stille musiziert, um die Stimme Lucile Richardots darüber schweben und schwingen zu lassen – bis mit der Trauermusik für Karl XI. schließlich die Nacht „des Norden Sonnen-Schein umfasset“. Und den Hörer gebannt, bewegt und beglückt zurücklässt.
Northern Light. Echoes from 17th-Century Sweden, Lucile Richardot, Sébastien Daucé. HMM 905368 (Harmonia Mundi)