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Fußball-EM der Frauen: Hey, Leute, denkt mal positiv! | ABC-Z

Als Torhüterin der Schweizer Fußball-Nationalmannschaft habe ich zwar nie bei der Endrunde eines großen Turniers gespielt. Aber als Eishockeyspielerin habe ich an zehn Weltmeisterschaften und zweimal an Olympischen Spielen teilgenommen. Ich weiß also, was ein Turnier bedeutet. Was es heißt, vier Wochen mit den gleichen Menschen am gleichen Ort zu sein. Wie man den Druck eines K.-o.-Spiels aushält. Wie es ist, immer Teamkleidung zu tragen – und wie man diese Gemeinschaft zelebriert. Ich weiß aber auch, wie schön es ist, am ersten freien Tag die eigene Kleidung anzuziehen. Dann bin ich nicht mehr nur Teammitglied mit einer Nummer, sondern das Individuum Kathrin Lehmann.

Als deutschschweizerische Doppelbürgerin, die in vier Ländern gespielt, gelebt und Titel gewonnen hat, weiß ich auch, was es bedeutet, sich auf eine andere Kultur einzulassen und trotzdem seine eigene Leistung abzurufen. Denn ein internationales Turnier hat immer auch damit zu tun, seine eigene Spielkultur, seine Wertvorstellungen auf den Platz zu bringen. Natürlich ist Fußball ein Spiel, aber wenn eine Partie auf Messers Schneide steht, kommt es auf den Charakter und das Selbstbewusstsein an.

Das ist cool anzuschauen. Wie interagieren die Spielerinnen? Wann klatschen sie sich ab? Wie interveniert die Trainerin oder der Trainer? Es ist fantastischer Sport, der uns in den kommenden Wochen erwartet. Frauenfußball hat sich in den vergangenen fünf Jahren noch einmal exorbitant entwickelt, vor allem die Athletik. Und da inzwischen alle Nationen top trainiert sind, werden die Unterschiede zwischen den Teams viel geringer, denn kämpfen kann jede. Umso wichtiger werden Technik und Taktik. Und eine vierte Komponente kommt hinzu: das Mentale. Ich halte nichts von Sprüchen wie “Im Kopf musst du stark sein”. Entscheidend ist das bedingungslose Wollen. Und das ist immer ein Zusammenspiel von Kopf und Herz. Manchmal will der Kopf nicht, und das Herz sagt: “Wir laufen trotzdem weiter.”

Darin waren die Deutschen – anders als die Schweizer – immer stark. Wenn es bei einem 100-Meter-Sprint darum geht, wer als Erster die Ziellinie überquert, fragt der Schweizer den Gegner: Möchtest du zuerst? Pia Sundhage, die schwedische Nationaltrainerin der Schweiz, hat mir gesagt: “Das Erste, was ich den Schweizerinnen austreiben muss, ist der Anstand.” Denn mit Anstand gewinnst du keine Spiele. Aber auch bei den Deutschen ist diese Willensstärke etwas weggebröckelt. Woran das liegt? An Deutschland selbst. Weil man immer nur nach dem Negativen sucht. Immer wieder höre ich selbstquälerische Fragen: Unsere Offensive mag ja toll sein, aber ist die Defensive nicht total unsicher? Ich frage dann zurück: Hey, Leute, können wir’s einfach mal umdrehen? Ihr habt einen supergeilen Sturm! In einem Turnier braucht man bedingungslosen Rückhalt. Dann wird das deutsche Team viel Freude auslösen und den Deutschen Lust auf den Sommer machen.

Der Fußball ist fast so etwas wie ein Maßstab für das gesamte Land. Aber dann schaut man auf die Strukturen beim DFB und hat den Eindruck, da wurde etwas verschlafen. Man hätte die Frauenbundesliga aus dem Verband herauslösen müssen, wie es bei den Männern mit der DFL geschehen ist. Aber auch eine eigene GmbH unter dem Dach des DFB könnte für den Frauenfußball mehr bewirken. Das EM-Finale 2022, das Deutschland erst in der Verlängerung verloren hat, war der endgültige Durchbruch für den Sport hierzulande. Er steht für eine gesellschaftliche Bewegung und das gewachsene Selbstbewusstsein der Frauen. Für die junge Generation spielen die Unterschiede zwischen Frauen und Männern ohnehin kaum noch eine Rolle. Und dieser Aufbruch ist jetzt auch im Fußball greifbar.

Für mich gehört Deutschland zu den Titelfavoriten – neben England, Spanien und Frankreich. Und doch bin ich mir sicher, dass nur zwei von diesen vier ins Halbfinale kommen. Wir werden eine Überraschung erleben. Welche genau, kann ich noch nicht verraten. Mehr dazu nächste Woche, wenn wir die ersten Spiele gesehen haben.

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