Wie brüchig ist der Frieden im Nahen Osten? | ABC-Z

Tel Aviv. Vorerst hält die Waffenruhe im Nahen Osten. Doch weder der Iran noch Israel können wirklich entspannen. Denn der Konflikt ist nicht gelöst.
Am Mittwochmorgen wacht Tel Aviv nach einer Nacht auf, in der kein Luftalarm die Menschen aus dem Schlaf gerissen hat. Die Waffenruhe zwischen Israel und dem Iran scheint zu halten. Nach zwölf Tagen gegenseitigem Beschuss schweigen die Waffen. Es ist eine Erleichterung für die Menschen in beiden Ländern. Wie lange dieser brüchige Friede hält, ist jedoch fraglich. Israel scheint sein Kriegsziel, die Zerstörung des iranischen Atomprogramms, nicht erreicht zu haben.
Experten sind sich sicher: Der Iran hat noch angereichertes Uran
Bereits kurz nach den US-amerikanischen Luftangriffen auf das extrem gut geschützte Herz des iranischen Atomprogramms in der Nacht auf Sonntag bezweifelten Militär-Analysten die Wirksamkeit der Attacke. Trotz des Einsatzes von mehrerer GBU-57, der weltweit stärksten nicht-nuklearen bunkerbrechenden Bombe, und zusätzlichen 30 Marschflugkörpern sei die Urananreicherungsanlage Fordow nur oberflächlich beschädigt worden.
Diese Einschätzungen bestätigten nun der US-Sender CNN sowie die „New York Times“ mit Verweis auf Quellen im US-Verteidigungsministerium. Stimmen diese Analysen, ist das iranische Atomprogramm keineswegs vollständig zerstört, wie US-Präsident Donald Trump gewohnt pompös verkündete – es wäre nur um Monate, vielleicht sogar nur um Wochen verzögert worden. Die Berichte stehen auch im krassen Gegensatz zu den Aussagen des israelischen Premiers Benjamin Netanjahu, der am Dienstag davon sprach, das iranische Atomprogramm sei „ruiniert“ und einen „historischen Sieg“ verkündete. Es könnte ein Pyrrhussieg sein.
Israel hat mit seinen Angriffen das Raketenarsenal des Iran dezimiert, Öl-Anlagen angegriffen und zahlreiche hochrangige Militärs, Geheimdienstler und Nuklearwissenschaftler gezielt getötet. Das Mullah-Regime ist geschwächt worden. Umso mehr wird es jetzt ein Interesse an der Entwicklung einer Atombombe haben. Die nukleare Bewaffnung wäre eine strategische Abschreckung und damit eine Überlebensgarantie.
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Der Waffenstillstand kann nur mit Diplomatie erhalten werden
Sollte die Anlage in Fordow noch funktionstüchtig sein und zügig wieder in Betrieb genommen werden können, droht ein neuer Wettlauf gegen die Zeit. Zudem gibt es Hinweise, dass der Iran möglicherweise über geheime und dezentrale Anlagen verfügt, um die etwa 400 Kilogramm auf einen Reinheitsgrad von 60 Prozent angereichertes Uran, die im Besitz Teherans sein sollen, auf waffenfähige 90 Prozent anzureichern. Wo diese 400 Kilogramm derzeit sind, ist ein Rätsel.
Um einen neuen Waffengang zu vermeiden, ist jetzt die Diplomatie gefragt. Es braucht schnell eine Neuauflage des 2018 von Trump aufgekündigten Atomabkommens. Der Iran wird nicht auf angereichertes Uran verzichten, wie es der US-Präsident und die Israelis fordern. Es muss unter europäischer und arabischer Vermittlung eine Lösung gefunden werden, die sowohl den Sicherheitsinteressen Israels dient, als auch das Gesicht des Mullah-Regimes wahrt. Erschwerend dürfte hierbei aber sein, dass der Iran derzeit jede Zusammenarbeit mit der Atomkontrollbehörde IAEA ablehnt.

Wie lange hält der Iron Dome?
Zudem sind in den vergangenen Tagen Schwächen der israelischen Luftabwehr zutage getreten. Die dreischichtige „Schutz-Zwiebel“ aus „Iron Dome“, „David’s Sling“ und „Arrow 3“ hat nicht verhindert, dass Raketen in Israel eingeschlagen sind. Zwar ist kein Luftabwehrsystem der Welt völlig undurchlässig – jedoch deuten die vermehrten Einschläge der letzten Kriegstage auf einen möglichen Mangel an Abfang-Raketen in den israelischen Arsenalen hin. Bei einem länger andauernden Konflikt könnte das zu einer Achillesferse werden.
Hauptstadt Inside von Jörg Quoos, Chefredakteur der FUNKE Zentralredaktion
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Auch das Mullah-Regime feiert das vorläufige Ende des Konflikts als einen Sieg. Jedoch haben die israelischen Angriffe auch seine Schwächen brutal offengelegt. Israelische Mossad-Agenten konnten – offensichtlich unterstützt durch im Iran lebende Helfer – Drohnen-Abschusssysteme im Land selbst installieren und hatten offensichtlich exakte Informationen über den Aufenthaltsort hochrangiger Regime-Funktionäre. Das muss beängstigend für die iranische Führung sein.
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Das Mullah-Regime geht hart gegen angebliche Spione vor
Jetzt scheinen die Mullahs mit harter Repression vorzugehen – über 700 angebliche Israel-Kollaborateure sollen bereits verhaftet worden sein. Am Mittwoch gab das Regime die Hinrichtung von drei angeblichen Spionen bekannt. Es sind Maßnahmen, die der Abschreckung dienen sollen. Eine Neuauflage der Proteste von 2022 will das Regime unbedingt vermeiden.
Der Sturz des Mullah-Regimes, ein nie ausformuliertes, aber gleichwohl angedeutetes Kriegsziel Israels, scheint trotz der Schwächung durch die Angriffe aber derzeit ohnehin nicht realistisch. Die Opposition hat unterschiedliche und kaum kompatible Vorstellungen von einem zukünftigen Iran und ist nicht bewaffnet. Die iranischen Revolutionsgarden, die mit ihrem Wirtschaftsimperium zu einem Staat im Staate geworden sind, und das Millionenheer der Basidsch-Freiwilligenmiliz stehen fest hinter der Regierung. Es scheint, als müsse Israel noch lange mit einem feindlich gesinnten Regime in der Nachbarschaft leben.
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Der Zwölf-Tage-Krieg könnte weitere, derzeit wenig beachtete Folgen haben: Die Repression im Iran trifft auch die rund sechs Millionen afghanischen Flüchtlinge und Arbeitsmigranten im Land. Unter den festgenommen angeblichen Spionen für Israel sind viele afghanische Staatsbürger. Jetzt soll die Deportierung von Afghanen in ihr Heimatland forciert werden, so hat es der Gouverneur von Teheran angekündigt. Für das von den Taliban mit harter Hand regierte und wirtschaftlich am Boden liegende Land wäre das eine Katastrophe.