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North Atlantic Treaty Organization-Gipfel in Den Haag: Viel Dissens im Konsens | ABC-Z

Historisch – das Wort fiel am Mittwoch immer wieder, als die Staats- und Regierungschefs auf dem NATO-Gipfel in Den Haag eintrafen. Auch Bundeskanzler Friedrich Merz verwendete es. Obwohl es inzwischen inflationär gebraucht wird, war es an diesem Tag wohl angebracht: dem Tag, an dem die Allianz beschloss, die nationalen Verteidigungsausgaben von 2 auf mindestens 3,5 Prozent anzuheben, plus weitere 1,5 Prozent für Infrastruktur – also zusammen 5 Prozent der Wirtschaftskraft.

HIP heißt das jetzt: Haager Investitionsplan. Er wird die Haushalte der 32 Mitgliedstaaten in den nächsten zehn Jahren stärker prägen und verändern als viele andere Beschlüsse. Und doch fiel es der NATO gerade an diesem Tag schwer, einig und einheitlich aufzutreten.

Das begann schon mit dem entscheidenden Satz in der Abschlusserklärung: „Geeint angesichts tiefgreifender Bedrohungen und Herausforderungen für die Sicherheit, insbesondere der dauerhaften Bedrohung der euroatlantischen Sicherheit durch Russland und der anhaltenden Bedrohung durch den Terrorismus, verpflichten sich die Verbündeten dazu, spätestens ab 2035 jährlich 5 Prozent des BIP in Kernanforderungen im Verteidigungsbereich sowie in verteidigungs- und sicherheitsrelevante Ausgaben zu investieren.“ Oder sollte man besser sagen: „verpflichten sich Verbündete“ statt „die Verbündeten“?

USA und Europäer erstmals auf Augenhöhe

Im englischen Original steht „Allies commit“, das lässt beide Lesarten zu – und war Teil der Irritationen, die das Treffen durchzogen. Spanien hatte auf dieser Formulierung bestanden, ursprünglich sollte da „wir verpflichten uns“ stehen. Doch so kann Ministerpräsident Pedro Sánchez weiter behaupten, dass sein Land nur 2,1 Prozent aufwenden müsse, um jene militärischen Fähigkeiten zu erreichen, die es der Allianz zugesagt hat – während NATO-Generalsekretär Mark Rutte ihm weiter widersprechen kann. Einigkeit? Nur darüber, dass man sich nicht einig ist, sagte ein Diplomat.

Der Konflikt mit Spanien zog am Mittwoch weitere Wellen, weil er eben nicht beigelegt worden ist. Jeder Regierungschef wurde beim Hereingehen danach gefragt. Die meisten gingen an den Mikrofonen der Medien vorbei. Ungewöhnlich viele waren es für einen historischen Tag. Der belgische Premierminister Bart De Wever blieb stehen. Belgien sei ja in einer ganz ähnlichen Lage wie Spanien, sagte er und meinte damit die Haushaltszwänge. „Wenn die spanische Auslegung stimmt, dann kann jeder den Text so auslegen“, sagte De Wever. „Es ist großartig, wenn man die Fähigkeiten erreichen kann, ohne 3,5 Prozent ausgeben zu müssen.“ Freilich fügte er hinzu, dass sich die NATO-Planer wohl kaum verrechnet hätten.

Derzeit geben die Europäer und Kanada zusammen 430 Milliarden Euro aus – mit 2 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung. Wenn es erst einmal im Schnitt 3,5 Prozent sind – die Staaten haben bis 2035 Zeit –, steigt der Betrag auf 750 Milliarden Euro. Das wären also Jahr für Jahr mindestens 320 Milliarden Euro zusätzlich, eine gewaltige Summe. Amerika wird dann immer noch mehr aufwenden, in absoluten Zahlen gerechnet 860 Milliarden Euro. Trotzdem werden sich die USA und ihre Verbündeten zum ersten Mal auf Augenhöhe begegnen.

Für die Europäer ist das der Schritt hin zu mehr Eigenverantwortung für ihre eigene Sicherheit. Für die Amerikaner ist es die Korrektur dessen, was sie seit Langem als „Trittbrettfahrerei“ kritisieren. „Equalize spending“, in den Ausgaben gleichziehen – das war Trumps zentrale Forderung in den Verhandlungen vor Den Haag. „Ein Gebot der Fairness“, so nannte Rutte das am Mittwoch.

Bekenntnis zum transatlatischen Bündnis

Allerdings geht die europäische Kraftanstrengung mit einer festen Erwartung einher: dass die NATO ein transatlantisches Bündnis bleibt, in dem das Beistandsversprechen weiter gilt. Das ist der Kern von Artikel 5 des NATO-Vertrags. Man wird die USA weiter brauchen, ihre Aufklärung, ihre Flugzeugträger, ihre Raketenabwehr, ihre weitreichenden Präzisionswaffen – und ihren nuklearen Schutzschirm, der mit einer Teilhabe von Verbündeten wie Deutschland einhergeht.

Das ist stets der erste und wichtigste Punkt jeder Gipfelerklärung. Auch in Den Haag: „Wir bekräftigen unser unverbrüchliches Bekenntnis zur kollektiven Verteidigung, wie es in Artikel 5 des Nordatlantikvertrags niedergelegt ist – dass ein Angriff auf einen ein Angriff auf alle ist.“ Allerdings fehlte diesmal der Hinweis, dass man „jeden Zentimeter des Bündnisgebiets zu jeder Zeit“ verteidigen werde. Das war die Sprachregelung seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine gewesen.

„Der US-Präsident und die Führungsspitze der USA haben sich voll und ganz der NATO verschrieben“, hatte Mark Rutte trotzdem schon am Dienstag beim NATO Public Forum gesagt. Seine Botschaft an Europa fasste er so zusammen: „Hört auf, euch so viele Sorgen zu machen. Fangt an, dafür zu sorgen, dass ihr Investitionspläne aufstellt, dass ihr die industrielle Basis zum Laufen bringt, dass die Unterstützung für die Ukraine auf einem höheren Niveau bleibt.“ So einfach ist es jedoch nicht.

Nur ein paar Stunden später wurde Trump von einem Reporter, der ihn nach Den Haag begleitete, in der Air Force One gefragt, ob die USA weiter zu Artikel 5 stünden. Der Präsident hätte einfach mit Ja antworten können. Stattdessen orakelte er herum: „Hängt von Ihrer Definition ab. Es gibt zahlreiche Definitionen von Artikel 5. Das wissen Sie doch, oder? Aber ich bin dazu entschlossen, dass wir ihre Freunde sind.“ Das klang nicht wie ein „unverbrüchliches Bekenntnis“, auch wenn Trump schon viel schlimmere Dinge gesagt hat, etwa als er Russland Anfang 2024 dazu ermutigte, mit Ländern, die nicht genug für Verteidigung ausgeben, „zu tun, was immer zur Hölle sie tun wollen“.

Rutte schmeichelte Trump in Nachricht

Am Mittwoch zeigte sich Trump zufrieden. „Ich habe sie seit Jahren gebeten, auf 5 Prozent zu erhöhen, und nun erhöhen sie auf 5 Prozent.“ Bei der Arbeitssitzung trat er zahm und freundlich auf, wie es in Teilnehmerkreisen hieß. Es gebe keinen „großartigeren Verbündeten“ als die USA, und so werde es vier Jahre lang bleiben – so wurde der Präsident wiedergegeben. Rutte habe einen „tollen Job“ gemacht, lobte er noch. Das stieß allerdings einigen im Raum sauer auf.

Schließlich hatte Trump am Vortag etwas getan, was den Generalsekretär ziemlich schlecht aussehen ließ. Der hatte dem Präsidenten eine Nachricht geschickt, um ihn auf den Gipfel einzustimmen. Trump fühlte sich davon so geschmeichelt, dass er den Text sogleich auf seinem Netzwerk Truth Social veröffentlichte. So konnte alle Welt nachlesen, wie Rutte sich im Stil eines devoten Angestellten äußerte, der seinen Chef beweihräuchert. „Sie fliegen gerade zu einem weiteren Riesenerfolg heute Abend in Den Haag“, hieß es darin. „Sie werden etwas erreichen, das KEIN US-Präsident in Jahrzehnten geschafft hat. Europa wird im GROSSEN Stil bezahlen, wie es das sollte, und es wird Ihr Gewinn sein.“

Wer Rutte kennt, konnte über diesen Ton nicht überrascht sein. Der Niederländer ist überaus biegsam und ziemlich schmerzfrei. Viele Diplomaten loben ihn dafür; sie glauben, dass man den US-Präsidenten überhaupt nur so beeinflussen könne. Doch bekamen dieselben Leute einen starren Blick, wenn man sie auf die Kurznachricht ansprach. Trump habe das niemals veröffentlichen dürfen, sagte einer, es „erniedrige“ Rutte. Eine andere Einschätzung lautete, dass es besser wäre, Trump selbstbewusst gegenüber zu treten. Man sehe ja, wie der mit Unterwürfigkeit umgehe.

Rutte selbst versuchte den Vertrauensbruch in typischer Manier wegzulächeln. Was er da geschrieben habe, sei doch bloß „die Feststellung einer Tatsache“. „Es ist für mich völlig ok, dass er es veröffentlicht hat“, behauptete der Generalsekretär am Mittwoch. Und doch war der Eindruck entstanden, das Fünfprozentziel werde beschlossen, um Trump zu schmeicheln.

Ringen um Formulierung zu Russland

Natürlich stimmt das so nicht. Friedrich Merz fühlte sich sichtlich berufen, den falschen Eindruck geradezurücken. Man treffe die Entscheidungen nicht, sagte er, „um irgendjemandem einen Gefallen zu tun, sondern wir treffen diese Entscheidungen aus eigener Erkenntnis, aus eigener Überzeugung, dass die NATO insgesamt und dies betrifft vor allem den europäischen Teil der NATO, in den nächsten Jahren mehr tun muss, um die eigene Verteidigungsfähigkeit zu sichern“. Russland bedrohe nicht nur die Ukraine. „Russland bedroht den gesamten Frieden, die gesamte politische Ordnung unseres Kontinents.“

Auch andere äußerten sich in diesem Sinne – je näher ihr Land an Russland liegt, desto deutlicher. „In Verteidigung zu investieren, trägt dazu bei, vorbereitet statt ängstlich zu sein“, sagte etwa Kristen Michal, der estnische Ministerpräsident. Es könne doch nicht sein, dass der große Nachbar in drei Monaten so viel Munition herstelle wie die gesamte Allianz in einem Jahr.

In der Haager Erklärung wird Russland ja auch als Grund für die Aufrüstung genannt. Doch mussten die Europäer auch diesen Satz Trump erst abtrotzen. Wie der US-Präsident auf Moskau blickt, hängt von seiner Tagesform ab. Auf der Anreise hatte er den Journalisten von einem kürzlichen Telefonat mit Wladimir Putin erzählt. Der habe ihm Hilfe in Sachen Iran angeboten. „Ich brauche Deinetwegen Hilfe“, hat Trump laut Trump geantwortet – vielleicht schon in Gipfelstimmung.

Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán ist weniger wankelmütig. Russland werde halt immer als Bedrohung genannt, sagte er in Den Haag. Um zu widersprechen: „Russland ist nicht stark genug, um eine echte Bedrohung für uns zu sein.“ Die eigentliche Gefahr sei der Verlust europäischer Wettbewerbsfähigkeit. Womit er andeutete, dass auch ihm das Fünfprozentziel viel zu weit geht.

Zukunft der Ukraine in der NATO? Auch hier Dissens

Orbán sagte auch gleich noch, dass die NATO in der Ukraine nichts zu suchen habe. Das sieht Trump genauso. Und natürlich hat sich die Allianz als Organisation direkt aus dem Krieg herausgehalten. Die meisten Mitglieder unterstützen Kiew jedoch militärisch – in diesem Jahr schon mit 35 Milliarden Euro.

Die Fünfprozentformel lässt es auch künftig zu, dass sie „direkte Beiträge für die Verteidigung der Ukraine und ihre Verteidigungsindustrie bei der Berechnung der Verteidigungsausgaben der Verbündeten einkalkulieren“. Das heißt: Was an militärischem Gerät geliefert wird, fällt unter die 3,5 Prozent, Finanzhilfe für die ukrainische Rüstungsindustrie dagegen unter die 1,5 Prozent.

Die Ukraine trage zu „unserer Sicherheit“ bei, heißt es in der Gipfelerklärung. Das war das Maximum, zu dem die USA bereit waren. Eine gemeinsame finanzielle Zusage wie noch in Washington vor einem Jahr – Fehlanzeige. Und kein Wort über die Beitrittsperspektive des Landes zum Bündnis. Wieder: Dissens statt Einigkeit.

Ein kluger NATO-Insider sagte, dass man zwischen der Allianz als politischem Bündnis und als Organisation unterscheiden müsse. Die Organisation werde durch die Beschlüsse gestärkt, schließlich werde sie künftig auf viel mehr Fähigkeiten zurückgreifen können. Das politische Bündnis sei dagegen schwach, weil es keine gemeinsame Wahrnehmung der Bedrohung gebe: nicht zwischen den USA und Europa, nicht einmal zwischen allen Europäern. Das fasste den historischen Tag recht gut zusammen.

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