Vertrauen hat ein Verfallsdatum: Die deutsche Industrie versucht es mal mit Optimismus | ABC-Z

Reformhoffnung trifft Sommersturm: Beim Tag der Industrie weht nicht nur wettertechnisch ein kräftiger Wind ums Gasometer in Berlin. Während draußen Stühle fliegen, setzt drinnen Kanzler Merz auf Aufbruchsrhetorik. Die Wirtschaft? Hört aufmerksam zu – und übt sich in Zuversicht. Noch.
Friedrich Merz kam, sah – und wurde beklatscht. Das allein sagt schon viel. Denn letztes Jahr noch bekam die damalige Ampel-Koalition an gleicher Stelle beim Tag der Industrie ihr Fett weg. Diesmal: mit Peter Leibinger ein neuer Industriepräsident, mit Merz ein neuer Kanzler. Beifall, gespannte Erwartungen, keine Häme. Merz ist halt, anders als sein Vorgänger Olaf Scholz, kein Fremdkörper in der Wirtschaftswelt – sondern eher so etwas wie ein “Ehemaliger”. Einer, der versteht, was die Sorgen von Unternehmern und Vorstandschefs sind. Merz sprach Klartext, versprach Reformen. “Merz ist halt ein Staatsmann”, sagte einer der Gäste. Eine “Aufbruchsrede” habe er gehalten, ein anderer.
Am späten Abend dann: Lars Klingbeil. Der Finanzminister wirkte abgehetzt. Rein in die Speakerslounge. Der Haushaltsstress war ihm anzusehen. Der Anzug zerknittert, das Gesicht müde. Von der jungenhaften Aura, die er so gerne verströmt, war nichts zu sehen. Aber auch er wusste die Gäste für sich zu begeistern. Der Klingbeil mache das schon ganz gut, war auf den Fluren zu hören.
Das Jahrestreffen des Industrieverbands bot in diesem Jahr mehr Optimismus – wenn auch kontrolliert. Mehr als Entscheider aus Wirtschaft, Politik und Wissenschaft diskutierten im Berliner Gasometer über die Großwetterlage des Landes. Und siehe da: Die Stimmung hat sich aufgehellt – nicht euphorisch, aber entschlossen. Fast so, als hätte man kollektiv entschieden, das Jammern mal für einen Moment auszusetzen.
Der neue Kanzler tut seinen Teil: Merz kündigte “harte politische Entscheidungen” an. Endlich wieder jemand, der das Wort “hart” nicht nur im Wahlkampf benutzt. Investitionsbooster, Wettbewerbsfähigkeit, Reformen – das klingt nach Handeln statt Hadern. Ob das alles auch kommt? Wird man sehen. Aber allein, dass man es für möglich hält, ist schon viel.
Gerade der industrielle Mittelstand hat seine To-do-Liste griffbereit: weniger Bürokratie, mehr Digitalisierung, klarere Investitionssignale. Die klare Botschaft an die Politik: Ihr seid jetzt dran.
Die Abrissbirne steht bereit
Industriepräsident Leibinger sprach vom “Silberstreif am Horizont”, vergaß aber nicht zu warnen: Nur schauen reicht nicht – man muss den Streifen auch erreichen. Und dafür braucht es Tempo. Schließlich droht nach BDI-Prognosen auch 2025 ein Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um 0,3 Prozent. Die Industrieproduktion? Hängt weiter unter dem Vorkrisenniveau. Kapazitätsauslastung: auffallend schwach. Und dann wären da auch noch die US-Zölle, die wie eine dunkle Wolke über allem schweben.
Die neue Regierung weiß: Vertrauensvorschuss ist schön – aber er hat ein Verfallsdatum. Die Wirtschaft hat genug erlebt, um Lippenbekenntnisse von echtem Wandel zu unterscheiden. Die Botschaft an die Bundesregierung: liefern, nicht aktieren.
Noch allerdings gibt sich die Industrie diplomatisch. Kritik? Nur zwischen den Zeilen. Die berühmten 100 Tage Schonfrist laufen noch. Man will die neue Regierung nicht gleich mit der Abrissbirne empfangen – aber die Abrissbirne steht bereit, falls es nötig wird.
Neben der Innenpolitik brannten auch die außenpolitischen Themen unter den Nägeln. Energie, Handelskonflikte, Nahost, China, USA – der geopolitische Druck ist enorm. Und mit ihm wächst der Wunsch nach europäischer Souveränität. Die Industrie ist bereit, Verantwortung zu übernehmen – bei Verteidigung, bei Resilienz, bei strategischer Autonomie. Was sie dafür braucht: einen Staat, der nicht ausbremst, sondern befähigt.
Das Jahrestreffen des BDI war kein Fest der Euphorie – aber ein Signal des Aufbruchs. Merz bringt neuen Stil, neue Sprache, neue Hoffnung. Die Wirtschaft ist bereit, mitzugehen – aber nicht um jeden Preis. Die Regierung muss jetzt zeigen, dass ihre Versprechen mehr sind als schön formulierte Thesen.
Zumindest draußen war es windig. Ein Sommersturm fegte über das Veranstaltungsgelände. Stühle schleuderten durch die Gegend. Sonnenschirme wurden reihenweise zerfetzt. Drinnen wurde über den wirtschaftlichen Aufbruch gesprochen. Wer Symbolik sucht – da war sie.