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Bayern: Was tun, wenn das Kind nicht mehr zur Schule will? – Landkreis München | ABC-Z

In der ersten Klasse geht Maxi noch gern zur Schule, sie freut sich aufs Lernen. Doch irgendwann nimmt ihr Interesse ab. Sie fängt an, sich im Unterricht mit anderen Dingen zu beschäftigen, träumt, passt nicht auf. Die Lehrerin gibt ihr Zusatzaufgaben, empfindet sie aber mit der Zeit als anstrengend. Ihre Klassenkameraden bekommen das mit. Einige beginnen, sie zu mobben. Sie hänseln Maxi, schubsen sie, kippen ihre Brotzeit aus der Box.

Die Schulsozialarbeiterin, die eingeschaltet wird, kann nichts ausrichten. Auch bei der Lehrerin findet Maxi keinen Rückhalt. Gleichzeitig setzen die Leistungsanforderungen der Schule und die Unterrichtssituation die Siebenjährige immer mehr unter Druck. Irgendwann erreicht sie so gut wie jeden Tag ein Stresslevel, von dem sie selbst nicht mehr herunterkommt, und kann kaum noch schlafen. Es wird so schlimm, dass sie nicht mehr zur Schule gehen will und die Eltern sie zu Hause lassen. Mittlerweile hat ein Psychologe Maxi attestiert, dass sie hochsensibel ist, sich also zum Beispiel in Gruppensituationen schwer konzentrieren kann.

Maxis Geschichte hat sich so ähnlich im Großraum München ereignet. Sie steht exemplarisch für Kinder, die dem Stress im Schulalltag nicht gewachsen sind, die vielleicht hochsensibel sind und möglicherweise zusätzlich gemobbt werden. Sie sind keine Einzelfälle. „Es ist zu beobachten, dass immer mehr Eltern ihre Kinder aufgrund von Stress, Überforderung oder Mobbing aus der Schule nehmen“, sagt Schulrechtsanwältin Katharina Sponholz von der Kanzlei Buse Herz Grunst Rechtsanwälte mit Standorten in Berlin und München.

Insbesondere der zunehmende Leistungsdruck und die Anforderungen des modernen Schulsystems könnten zu einem Anstieg solcher Fälle führen, sagt die promovierte Anwältin.  Das Staatliche Schulamt, das für die Grund- und Mittelschulen im Landkreis München zuständig ist und in solchen Fällen in der Regel auch eingebunden wird, sieht in der Region allerdings „keine signifikante Zunahme der Fälle“, wie Schulamtsdirektor Ulrich Barth sagt.

„Meist ist Schulvermeidung Ausdruck einer Notlage“, sagt Ulrich Barth, Schulamtsdirektor des Landkreises München. (Foto: Catherina Hess)

Für alle Seiten sind solche Fälle jedenfalls eine große Herausforderung. Was kann und sollte die jeweilige Schule unternehmen? Was können Lehrkräfte tun? Ist kein Platz für solche Kinder im Regelschulsystem? Gerade Eltern stehen oft recht hilflos da, wenn sie bemerken, dass ihr Kind in oder an der Schule leidet. Können sie selbst tätig werden und das Kind zeitweise von der Schule nehmen, um es zu schützen? Aber wie verträgt sich das mit der Schulpflicht? Viele Fragen, auf die es keine einfachen und allgemeingültigen Antworten gibt.

Allein die Ursachen, warum manche Kinder gar nicht mehr zur Schule gehen, sind schwer zu fassen, weil sie so unterschiedlich sein können. „Meist ist Schulvermeidung Ausdruck einer Notlage“, sagt Schulamtsdirektor Barth. Schwierige familiäre Verhältnisse können ebenso eine Rolle spielen wie starke psychische Belastungen durch Versagensangst, Angst vor Konflikten mit Lehrern oder Mitschülern, aber auch tiefergehende psychische Erkrankungen wie Depressionen. Und noch eines beobachtet der Schulamtsleiter: Symptome für Schulvermeidung wie Unterrichtsstörungen oder häufiges Fehlen wegen unspezifischer Krankheiten zeigten sich meist schon im Grundschulalter und verfestigten sich in der Sekundarstufe.

Auch Harun Lehrer kann bestätigen, wie unterschiedlich die Hintergründe für ein dauerhaftes Fehlen sein können. Lehrer leitet seit 2018 die Josef-Breher-Mittelschule in Pullach. Dass Kinder der Schule dauerhaft fernbleiben, komme allerdings nur bei einem Bruchteil der Schüler vor, betont er. Gerade an der Mittelschule brächten die Kinder oftmals einen schweren Rucksack an Negativerfahrungen mit, etwa, wenn sie zuvor an der Realschule oder am Gymnasium gescheitert sind. Dann steigen Leistungsdruck und Versagensängste. „Nach solchen Erfahrungen ist ja klar, dass ich nicht gern in die Schule gehe“, sagt Lehrer. Die Schule versuche dann, die Kinder behutsam wieder aufzubauen, eine Vertrauensbeziehung aufzubauen.

Schulrektor Harun Lehrer von der Josef-Breher-Mittelschule in Pullach.
Schulrektor Harun Lehrer von der Josef-Breher-Mittelschule in Pullach. (Foto: privat)

In manchen Fällen kann das bedeuten, dass die Schulsozialarbeiterin ein Kind, das mit großer Schulangst ankommt, morgens gleich am Tor zum Pausenhof abholt und ins Klassenzimmer begleitet. Oder dass das Kind erst einmal nur seine Lieblingsfächer besucht und dann Schritt für Schritt in den Unterricht einsteigt. „Wir stellen die Frage: Was braucht das Kind, damit es wieder gern in die Schule kommt?“, sagt Schulleiter Lehrer.

Wenn Schüler auffällig oft unentschuldigt fehlen, können die Schulen freilich auch mit Zwangsmaßnahmen reagieren. Vom Schulrecht her sind sie dazu verpflichtet, die Schulpflicht durchzusetzen. Grundsätzlich sind in Deutschland die Hürden, dass ein Kind der Schule in Präsenz fernbleiben darf, hoch – anders als in manchen anderen europäischen Ländern. Das ist bewusst so gestaltet. „Die bestehende Schulpflicht zielt darauf ab, Schülerinnen und Schüler zur Teilnahme in der Gemeinschaft zu befähigen“, erklärt eine Sprecherin des bayerischen Kultusministeriums.

Für eine grundsätzliche Befreiung von der Schulbesuchspflicht gibt es in Bayern keine Rechtsgrundlage – ein Kind darf nur dann der Schule fernbleiben, wenn ein zwingender Grund vorliegt, etwa gesundheitliche Gründe. Dann gilt es als entschuldigt und darf an einem etwaigen Distanzunterricht teilnehmen oder zu Hause beschult werden. Ob ein solcher Grund vorliegt, muss aber durch fachärztliche und gegebenenfalls schulärztliche Atteste belegt werden. Fälle, in denen eine Hochsensibilität wie bei Maxi im Raum steht, sind dabei komplex. Denn Hochsensibilität stellt laut dem Ministerium „keine eigenständige medizinische Diagnose im Sinne der international anerkannten Klassifikationssysteme“ dar.

Eine so leidvolle Situation wie bei Maxi kann vielleicht zunächst dadurch entspannt werden, dass das Kind nicht mehr in die Schule geht. Doch ohne Folgen für das Kind bleibt das unter Umständen nicht, wie das Kultusministerium mahnt. „Gerade die Herausnahme aus schulischen Anforderungen kann Vermeidungsverhalten verstärken, Symptome chronifizieren und eine soziale Entwicklung hemmen“, so die Ministeriumssprecherin. Um die Schulpflicht durchzusetzen, kann die Schulleitung im Fall langfristiger Absenz etwa eine Attestpflicht verhängen. Kommt die Familie dem nicht nach und das Kind fehlt weiter, kann die Schule das Schulamt einschalten und in Härtefällen über das Landratsamt ein Bußgeld androhen. Besteht Zweifel an der Richtigkeit des Attests, kann die Familie auch aufgefordert werden, dieses von einem Amtsarzt bestätigen zu lassen.

Im äußersten Fall können sich Eltern sogar in einem Gerichtsverfahren wiederfinden. Denn ist ein Kind über einen längeren Zeitraum der Schule fern geblieben „ohne hinreichende Entschuldigung oder medizinische Begründung, könnte dies ein Hinweis auf eine Kindeswohlgefährdung sein“, erklärt Rechtsanwältin Sponholz. In einem solchen Fall kann die Schulleitung das Jugendamt verständigen, um zu klären, ob und in welcher Weise die Eltern Unterstützung benötigen. Sollten Eltern, Schulleitung und Behörden keine Einigung finden und das Wohl des Kindes weiterhin gefährdet erscheinen, kann der Fall vor ein Gericht kommen. Das Gericht würde in einem solchen Fall prüfen, ob eine Ausnahme von der Schulpflicht gerechtfertigt ist und ob gegebenenfalls alternative Bildungsangebote oder eine schulische Anpassung erforderlich sind, sagt die Anwältin.

So weit muss es allerdings erst gar nicht kommen. Höhere Eskalationsstufen erlebe er in der Praxis äußerst selten, sagt Mittelschulleiter Harun Lehrer. „Und sie bringen meistens auch nichts, weil sie die Hintergründe für das Fernbleiben nicht klären.“ Schulamtsdirektor Barth hält aus denselben Gründen auch nichts davon, dass ein Kind von der Polizei zwangsweise zur Schule gebracht wird, was im Extremfall auch möglich ist. Die Motivation, in die Schule zu kommen, müsse bei den Kindern intrinsisch sein, sagt Schulleiter Lehrer. Daher suche er in Konfliktfällen immer rasch das Gespräch mit den betreffenden Schülern, ihren Eltern, Lehrkräften und der Schulsozialarbeit. Das Schulamt empfiehlt, je nach Fall möglicherweise auch Schulpsychologen hinzuzuziehen oder sich an die Beratungszentren im Landkreis zu wenden.

„Unser Ziel muss sein, dass das Kind wieder gern in die Schule kommt.“

Auch für Kinder wie Maxi, beim denen Hochsensibilität im Spiel ist, gibt es Stellschrauben, um den Unterricht besser verträglich für sie zu machen. „Bereits niederschwellige Maßnahmen wie ein ruhiger Sitzplatz, verlässliche Strukturen, kurze Auszeiten oder veränderte Kommunikationsformen können hierbei entlastend wirken“, sagt die Sprecherin des Kultusministeriums. Langfristig sollte auch die Resilienz des Kindes gefördert werden. Es können auch die Erziehungsberechtigten einbezogen werden. Man kann sich vorstellen, dass solche Maßnahmen Maxi und anderen Betroffenen helfen würden. So könnten sie weiterhin in der Gesellschaft ihrer Klassenkameraden lernen und sich bei Bedarf eine kleine Pause nehmen.

„Unser Ziel muss sein“, sagt Schulleiter Harun Lehrer, „dass das Kind wieder gern in die Schule kommt.“ Maxis Eltern bemühen sich, dass sie bald auf eine andere Schule wechseln kann, wo sie in einer kleineren Klasse und einem ruhigeren Ambiente wieder Freude am Unterrichtsbesuch finden kann.

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