Deutschlands U-21-Nationalteam bei Fußball-EM: Ein Schatz voller Einsichten | ABC-Z

Auf den ersten Blick erscheinen die Gedanken, die den Spielern der deutschen U- 21-Nationalmannschaft im Anschluss an ihren wilden Viertelfinalsieg bei der Europameisterschaft durch den Kopf gingen, ziemlich widersprüchlich. Nick Woltemade sprach nach der mit 3:2 in der Verlängerung gegen Italien gewonnenen Partie von einer „Mörderleistung“. Kapitän Eric Martel lobte die Kollegen dafür, „immer einen draufsetzen“ zu können, während Merlin Röhl eher selbstkritische Töne wählte: „Wir haben es nicht so gut gemacht, obwohl wir zwei Mann mehr waren.“
Alle drei sprachen über dasselbe Spiel, genau wie Trainer Antonio di Salvo, der seiner Mannschaft vorwarf, sich „das Leben unnötig schwer“ gemacht zu haben. In gewisser Weise hatten alle recht und konnten sich über einen mit denkwürdigen Ereignissen, Drehungen, Wendungen und Herausforderungen vollgestopften Fußballabend freuen, an dessen Ende sich ein kostbarer Ertrag im Gepäck der Beteiligten befand: Erfahrung im Umgang mit den mitunter extremen Dynamiken eines großen Turniers.
Im Nationalmannschaftsfußball gibt es auf dem Weg zu fast jedem größeren Titel solche Spiele, in denen es hakt und holpert, in denen fast niemand wirklich zufrieden ist mit der eigenen Leistung. Resilienz und Durchhaltevermögen werden dann zu entscheidenden Faktoren, und nun wissen alle, die an diesem Abend dabei waren, wie sich das anfühlt. Wobei die ganze EM für die Deutschen mehr und mehr zu einem Schatz voller wertvoller Einsichten wird.
Bereits vor dem ersten Spiel hat der Mittelfeldspieler Rocco Reitz erzählt, dass er viel aufgeregter sei als vor einer Bundesligapartie, ohne genau erklären zu können warum. Der auf Turnierebene noch kaum eingesetzte Woltemade berichtete während der Gruppenphase, dass er die Kräfte dieses Wettbewerbs als etwas Neues und Überraschendes erlebe. Meisterschaften dieser Art funktionieren eben anders als eine Bundesligasaison. „Das hat heute wieder einmal den Teamgeist gestärkt“, sagte Woltemade, der ein Tor selbst per Kopf erzielt hatte, bevor er Nelson Weipers Treffer zum zwischenzeitlichen 2:1 mit einem Kopfball in seinen Rücken brillant vorbereitete. Zunächst rätselten die Beobachter, ob der Stürmer den Ball tatsächlich mit Absicht zum Kollegen weitergeleitet hatte, weil die Aktion so ungewöhnlich war. Aber der Führende der EM-Torjägerliste verkündete, dass er Weiper gesehen habe: „Ja, das war geplant.“
Die Ausnahmestellung des Stuttgarter Stürmers, dessen Transferwert gerade in die Höhe schießt, ist ein zentraler Mosaikstein des Erfolges. Relevanter für die Zukunft der beteiligten Spieler ist aber der Bilderbuchturnierverlauf zur Spielerentwicklung, die zu gelingen scheint. In der ersten Phase der EM spielte die U 21 meist gut, schoss aber auch Tore in den schwierigeren Momenten und entwickelte ein starkes Selbstvertrauen. Im dritten Gruppenspiel, als die Teilnahme an der K.-o.-Phase bereits feststand, hat der Trainer das komplette Team ausgetauscht und elf frische Spieler aufgestellt, die die hoch gehandelten Engländer besiegten. Das tat denen auf den hinteren Plätzen des Kaders gut.
Ein sehr gutes Zeichen
Zudem wurde in allen Partien engagiert und kollektiv verteidigt, was immer ein sehr gutes Zeichen in so einem Wettbewerb ist. Gerade nach gelungenen Defensivaktionen habe das Team „sich abgefeiert“, sagte di Salvo. Die beteiligten Spieler haben diese kaum messbare Kraft aufgesogen, die sich vielleicht am ehesten mit dem Begriff „Turnierreife“ beschreiben lässt. Denn gegen Italien hatten sie sich sowohl körperlich als auch mental in Grenzbereiche begeben. Di Salvo sprach von „wertvollen Erkenntnissen“, die er habe sammeln können, alle wissen nun, dass sie „auch solche schwierigen Situationen überwinden können.“
Denn nach zwei Platzverweisen für Italien in der Schlussphase führten die Deutschen 2:1 und spielten mit zwei Mann mehr. Der Versuch, diesen Vorteil souverän auszuspielen, misslang jedoch: In der sechsten Minute der Nachspielzeit flog ein Freistoß von Guiseppe Ambrosino zum Ausgleich ins Tor. „Dieser Moment hat schon was mit uns gemacht“, sagte Röhl, der am Ende der zähen Verlängerung zum 3:2 getroffen hatte (116.) – per Fernschuss, souverän herausgespielte Chancen bekam das Team nämlich im Überzahlspiel nicht hin.
Vielleicht liegt das an der nach Absagen der Klub-WM-Teilnehmer nicht ganz so hohen individuellen Qualität. Neben Woltemade gibt es kaum Spieler mit realen Chancen, noch vor der WM im kommenden Jahr A-Nationalspieler zu werden. Immerhin schaut Julian Nagelsmann die Spiele am Bildschirm an, erzählte Rudi Völler, der Sportdirektor des Deutschen Fußball-Bundes, und ergänzte: „Wenn wir ganz am Ende noch dabei sein sollten, sagt mir mein Gefühl, dass Julian dann doch kommen wird.“ Im Halbfinale trifft Deutschland am Mittwoch auf Frankreich, bevor am Samstag das Finale stattfindet. Und vielleicht wäre ein Besuch für Nagelsmann nicht nur wegen seines Interesses an Einzelspielern bereichernd. Schließlich ist seine persönliche Sammlung mit hautnah erlebten Extremsituationen bei großen Turnieren kaum umfangreicher als die der U-21-Spieler.