Gesundheit

Was hilft gegen Migräne? Antworten gibt die Migräne-Klinik Königstein |ABC-Z

Migräne, sagt Caroline Jagella, sei eigentlich die Volkskrankheit schlechthin. Die Chefärztin der Migräne- und Kopfschmerzklinik in Königstein im Taunus erklärt das so: Zunächst einmal ist die Migräne sehr verbreitet. Etwa ein Viertel der Bevölkerung leidet daran, von den Frauen sogar fast ein Drittel. Am schlimmsten treffen die Attacken viele Patienten in der Rushhour des Lebens, also in der Zeit mit den größten Herausforderungen in Familie und Beruf. Das zeigt, wie eng die Krankheit mit der Gesellschaft verbunden ist, mit der Art, wie wir leben. Sie betrifft also auch in diesem Sinne das Volk.

In Deutschland könnte das sogar in besonderem Ausmaß gelten. „Die Migräne ist eine Erkrankung des Gehirns, eine neurologische Erkrankung“, sagt Jagella, die selbst Neurologin ist. „Anders als in anderen Ländern ist die Neurologie in Deutschland aus der Psychiatrie hervorgegangen.“ Migräne werde daher bis heute oft als psychosomatische Krankheit angesehen und behandelt. Die Folge: Patienten mit Migräne werden stigmatisiert. Auch im Alltag.

Die Königsteiner Einrichtung war die erste Migräneklinik in Deutschland. Zwei Brüder haben sie 1977 gegründet. Sie boten eine ganzheitliche Therapie an, mit Kneipp-Becken und leicht verdaulicher Diät nach dem Fastenarzt Franz Xaver Mayr. Jagellas Vorgänger hat das Haus am Ölmühlweg dann, wie die Ärztin berichtet, zu einer evidenzbasierten neurologischen Klinik gemacht. Sie selbst hat die medizinische Leitung vor knapp drei Jahren übernommen. Davor hat sie lange in der Schweiz gearbeitet.

„Das Migränehirn ist ein überreiztes, aber sehr leistungsfähiges Hirn“

Das Haus im Taunus setzt auf eine Vielzahl von Verfahren. Ein Team aus Ärzten, Pflegern, Physiotherapeuten und Psychologen geht davon aus, dass das Verhalten die Migräne beeinflussen kann. Der Ansatz findet sich auch in den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie und der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft zur Therapie und Prophylaxe von Migräne. Darin heißt es, die Vorbeugung mit Medikamenten „sollte generell von psychologischen Verfahren wie Edukation, Selbstbeobachtung, Selbstmanagement, kognitive Verhaltenstherapie, Training sozialer Kompetenzen, Entspannungsverfahren, Achtsamkeit, Biofeedback u. a. flankiert werden“. Auch Ausdauersport kann helfen.

Caroline Jagella, Chefärztin der Migräneklinik Königstein, spricht über Therapiemöglichkeiten der verbreiteten neurologischen Krankheit.Wonge Bergmann

„Das Migränehirn ist genetisch bedingt ein überreiztes, aber auch sehr leistungsfähiges Hirn“, sagt die Neurologin Jagella. Migränepatienten rotieren immer weiter – bis zur Attacke. Sie sind akribisch, halsen sich im Beruf und privat mehr auf als andere. Viele sind zwischen den Attacken extrem leistungsstark, aber ihnen fehlt oft ein Filter, wann es zu viel ist. Sobald eine Attacke kommt, bleiben sie bei der Leistung auf der Strecke. Die Krankheit behindert die Betroffenen dann enorm. Die Weltgesundheitsorganisation zählt Migräne zu den Krankheiten, die über die gesamte Lebensspanne hinweg die Lebensqualität am stärksten beeinträchtigen.

Bei einer Attacke herrscht Gewitter im Kopf. „Der Schmerz ist hier die Spitze des Eisbergs der gesamten Migräneattacke, wenn auch für die Betroffenen zumeist das schwerste Symptom“, sagt Jagella. Die Vorphase dauert ein bis drei Tage. Die Stimmung der Patienten schwankt, sie sind hyperaktiv oder auch müde. Manchen ist gar nicht bewusst, dass das an der Migräne liegt. Wenn eine Attacke naht, merken es mitunter Angehörige vor den Betroffenen selbst.

Stigmatisierung und Stress verstärken die Attacken

Den Schmerz begleiten oft Lichtempfindlichkeit, Seh- und Sprachstörungen. Die Patienten fühlen sich ausgeknockt. Nach einer Attacke, die meist um die 24 Stunden dauert, spüren sie oft tagelang Nachwirkungen. Viele sind somit fünf bis sieben Tage im Monat mit der Migräne beschäftigt, Frauen oft vor der Periode. Andere fallen noch öfter aus, an 15 oder mehr Tagen monatlich: Gut ein Zehntel der Patienten hat chronische Migräne.

Sobald es Betroffenen nach einer Attacke wieder gut geht, versuchen sie, alles Versäumte aufzuholen – und nehmen sich keine Zeit zu entspannen. Oft hätten sie ein Bild davon im Kopf, wie man zu funktionieren habe, berichtet die Ärztin Jagella. Einige fürchten dann, dem nicht vollends gerecht zu werden, und sagen sich ständig: Stell dich nicht so an.

„Die Art, wie wir arbeiten, kann Migräne begünstigen“, sagt die Medizinerin. Sie erwähnt Termindruck, unregelmäßige Zeiten, viel Bildschirmarbeit, wenig frische Luft, das Fehlen fester Mahlzeiten und Pausen. „Aber auch das Stigma, mit dem Migränepatienten oft belegt werden, trägt dazu bei.“ Dann unterstellen andere den Betroffenen, mit der Migräne doch bloß Aufmerksamkeit erlangen zu wollen. Oder sich vor Aufgaben zu drücken. Eine amerikanische Studie mit knapp 60.000 Teilnehmern hat im vergangenen Jahr gezeigt, dass etwa ein Drittel oft oder sehr oft solche Erfahrungen macht. Die Folge: Es geht ihnen noch schlechter.

Migränefreundliches Arbeitsumfeld stärkt Betroffene und Wirtschaft

Die Volkskrankheit hat Folgen für die Volkswirtschaft. Die Forschung spricht von Verlusten durch Absentismus, also wenn Arbeitnehmer wegen des Kopfschmerzes nicht zur Arbeit kommen. Aber auch der Präsentismus mindert die Produktivität, also wenn sie sich trotz der Migräne hinschleppen und nicht in der Lage sind, richtig zu arbeiten. Ein Programm der Schweizerischen Kopfwehgesellschaft schlägt Unternehmen daher vor, einen migränefreundlichen Arbeitsplatz zu schaffen.

Dazu gehören Vorträge über die Krankheit, Angebote für Homeoffice – und dass jederzeit Schmerzmittel und Kühlpackungen griffbereit sind. Auch lassen sich individuelle Trigger verringern, etwa Gerüche, störendes Licht, bestimmte Geräusche. Arbeitgeber sollen Betroffene ermutigen, über die Krankheit zu sprechen. Das alles soll helfen, der Stigma-Falle zu entgehen – und auch den Unternehmen selbst nutzen.

Manche Patienten nehmen zu viele Schmerzmittel. Das ist gefährlich. Denn aus dem Übergebrauch kann sich ein separater Kopfschmerz entwickeln. Nach den Migräne-Leitlinien der beiden medizinischen Gesellschaften sollte daher niemand öfter als an neun Tagen im Monat Migränemittel oder auch gängige Mittel wie Ibuprofen nehmen. Sonst ist das Risiko für den Kopfschmerz durch Kopfschmerzarznei zu hoch.

Insgesamt jedoch sind die migränespezifischen Akut-Medikamente laut Jagella „prinzipiell ein Segen“. Die Triptane waren in den Neunzigerjahren die ersten dieser Medikamente. Zu dem komplexen Vorgang, der zur Migräne führt, gehört auch, dass eine Entzündungsreaktion in Gang kommt und sich die Gefäße der Hirnhäute erweitern, was die heftigen Schmerzen auslöst. Die Triptane ziehen die Gefäße an bestimmten Stellen zusammen. Seit vielen Jahren werden gegen Migräne auch Basismedikamente zur täglichen Einnahme gegeben, Betablocker und Antidepressiva zum Beispiel.

Therapie mit Medikamenten, Bewegung und stationären Aufenthalten möglich

Seit einiger Zeit gibt es zudem die Gruppe der CGRP-Antikörper. CGRP ist ein Protein, das der Körper bei Migräne ausschüttet – und die Ursache dafür, dass sich die Gefäße erweitern. Die Medikamente hemmen die Ausschüttung des Proteins und können so die Gefäßerweiterung über einen längeren Zeitraum verringern. Das wird nach der Einführung der Triptane als weitere Revolution in der medikamentösen Therapie der Migräne angesehen. Die CGRP-Antikörper werden gespritzt. Sie sind bei einem Drittel der Patienten hochwirksam, haben relativ wenige Nebenwirkungen – und sind sehr teuer.

Der jüngste Schritt in der Entwicklung von Migränemitteln sind die Ditane und Gepante. Seit wenigen Jahren gibt es in Deutschland etwa das Akutmittel Lasmiditan unter dem Handelsnamen Rayvow. Das Atogepant unter dem Handelsnamen Aquipta ist als Prophylaxemittel erst seit März zugelassen und wirkt ähnlich gegen das Protein CGRP wie die älteren Medikamente. Anders als sie muss es aber nicht gespritzt werden, sondern die Patienten können es schlucken.

Zur Therapie mit den Medikamenten sollte aber auf jeden Fall eine nichtmedikamentöse Behandlung kommen. Die Königsteiner Klinik empfiehlt etwa mildes Ausdauertraining, Entspannungstherapien wie die Progressive Muskelentspannung nach Jacobson, Yoga und Atemübungen. Das alles soll helfen, die fortwährende Informationsverarbeitung des Gehirns herabzusetzen. Es gibt Physiotherapie für den Nacken, Eisabreibungen, Verhaltenstherapie, Essen mit wenig Kohlenhydraten, Hinweise zum Schlafen. Passend zur Tradition der Kurkliniken im Taunus gehen die Mitarbeiter mit den Patienten an die frische Luft, zum Beispiel zum Nordic Walking im nahen Wald.

Ein Aufenthalt in der Akutklinik dauert ein paar Wochen, aufgenommen werden alle Kassen- und Privatpatienten und auch Selbstzahler. Laut Chefärztin Caroline Jagella kommen die Patienten aus ganz Deutschland. Es gibt 20 Akutbetten, aber die Klinik könnte nach ihren Angaben angesichts der Anfragen viel mehr Kranke aufnehmen. Eine Eigenschaft der Migräne-Patienten zeigt sich ihrer Beobachtung nach übrigens auch in der Klinik: Sie verhalten sich vorbildlich – in diesem Fall bei Therapie und Prävention. Jagella sagt: „Sie arbeiten unheimlich gut mit.“

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