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McLaren in der Formel 1: Der sich abzeichnende Crash zwischen Norris und Piastri – Sport | ABC-Z

Die Szenen, die dafürsprechen, dass beim Großen Preis von Kanada am Sonntag eine Vorentscheidung in der Formel-1-Weltmeisterschaft gefallen sein könnte, hat jeder Fernsehzuschauer besser erkennen können als Lando Norris. Und das obwohl dieser drei Runden vor Schluss des zehnten WM-Laufs mittendrin war. Es war eine dieser Situationen im Motorsport, in denen nur eine Millisekunde zwischen Hero und Zero liegt.

Als das Rennen in die 67. Runde ging, wurde zwar nur um den vierten Platz gekämpft, aber indirekt eben auch um die WM-Spitze. Und viel wichtiger noch um den Anspruch, wer künftig die Nummer Eins im McLaren-Rennstall ist. Norris liegt in der Gesamtwertung direkt hinter seinem Teamkollegen Oscar Piastri.

Beide erwischten in Kanada nicht ihr bestes Rennwochenende, die Überlegenheit des orangefarbenen Autos war auf der Stop-and-Go-Strecke weg. Norris war nur als Siebter gestartet, Piastri immerhin als Dritter, wurde aber im Rennen früh überholt. In der Schlussphase legte sich der Brite seinen härtesten Rivalen zurecht, in der letzten Kurve auf dem Circuit Gilles-Villeneuve lag er gleichauf, dann sogar vorn, aber Piastri hatte innen den besseren Winkel. Die lange Gerade musste die Entscheidung bringen, das spürte der Verfolger. Doch dann wählte Norris für die Attacke die falsche Seite. Statt es außen zu probieren, stach er innen rein. Bloß war da kein Platz, nur eine dieser unverzeihlichen Begrenzungsmauern. Ironischerweise an der gleichen Stelle, an der 2011 die McLaren-Piloten Lewis Hamilton und Jenson Button kollidiert waren.

Norris knallte mit voller Wucht auf den Hinterreifen von Piastris Auto, das Wrack schlitterte die Wand entlang. Danach musste das Safety-Car ausrücken und George Russell im Mercedes erlebte seinen ersten Saisonsieg vor Max Verstappen und Andrea Kimi Antonelli im zweiten Silberpfeil schleichend. Die Kameras aber klebten auf Norris, der einmal mehr erst die Nerven und dann das Auto verloren hatte. Zu sehen war, wie Norris seinem lädierten Dienstwagen den Rücken zudrehte, dahinter stieg Rauch auf. Ein traurigeres Bild konnte man sich an diesem strahlenden Sonntagnachmittag in Quebec kaum vorstellen. In der Gesamtwertung hat der 25-Jährige mit 176 Punkten nun 22 Zähler Rückstand auf Piastri.

Max Verstappen ist nach einer weiteren großen Fahrt schon wieder auf 21 Punkte an Lando Norris dran

Es war ein Crash, von dem alle wussten, dass er irgendwann passieren würde. Norris selbst hatte ihn in seiner Interviewrunde am Donnerstag prognostiziert. Denn die papaya rules, wie bei McLaren der Pakt der gegenseitigen Rücksichtnahme getauft wurde, können in einem sich zuspitzenden Titelkampf nicht ewig ihre Gültigkeit behalten, schon gar nicht in derart dynamischen Situationen. Teamkollegen befinden sich im permanenten Verdrängungswettbewerb, und Piastri hat derzeit ob seiner Stabilität und Coolness klar die Oberhand. Norris versuchte erst gar nicht, seine Verzweiflungstat zu beschönigen, der Funkspruch aus dem Cockpit war an Ehrlichkeit nicht zu überbieten: „Entschuldigung. Das war alles meine Schuld. Pech gehabt, sorry. Ziemlich dämlich von mir.“ Ein WM-Kandidat auf dem Tiefpunkt, vielleicht sollte er doch auf die Mail des deutschen Ex-Weltmeisters Nico Rosberg antworten, der ihm mentale Tipps angedient hatte.

McLaren-Teamchef Andrea Stella sieht einen klaren Verstoß gegen die Prinzipien des Miteinanders: „So etwas wollen wir nicht sehen. Aber es war keine böse Absicht, sondern eine Fehleinschätzung. Und es hat Lando einiges gekostet.“ In den Strategie-Briefings nach Montreal und vor dem kommenden Rennen in Spielberg in zwei Wochen wird Norris noch einige bittere Déjà-vus erleben. Fair gab er bei den Interviewrunden dem Gegenspieler die Hand, entschuldigte sich. Piastri mit seiner undurchdringlichen Miene war bisher schon kaum für ihn zu greifen, die neuerliche Situation spielt dem Führenden weiter in die Hände. Noch ist nicht Saisonhalbzeit, aber die Frage nach der Stallorder wird dringender. Max Verstappen ist nach einer weiteren großen Fahrt im unterlegenen Red Bull schon wieder auf 21 Punkte an Norris dran, darauf muss McLaren ein Auge haben.

George Russell (li.) holt in Kanada seinen vierten Formel-1-Sieg und sein Teamkollege Kimi Antonelli wird zum drittjüngsten Fahrer, der es in dieser Rennserie auf ein Podium geschafft hat.
George Russell (li.) holt in Kanada seinen vierten Formel-1-Sieg und sein Teamkollege Kimi Antonelli wird zum drittjüngsten Fahrer, der es in dieser Rennserie auf ein Podium geschafft hat. (Foto: Christinne Muschi/AP)

Der Mann, der vermutlich der Glücklichste im Fahrerlager war, weil er sich gleich doppelt freuen durfte, war nach der Zieldurchfahrt hingegen von keinem Fernsehteam zu erfassen: Mercedes-Teamchef Toto Wolff war im Dunkel der Garage geblieben, um erstmal das beste Resultat für seinen Rennstall seit Langem zu verarbeiten, das die Silberpfeile auch in der Konstrukteurswertung an der erneut indisponierten Scuderia Ferrari vorbei auf Platz zwei bringt. Vor allem dürfte es Genugtuung gewesen sein, die der Österreicher verspüren muss. Er war es, der nach dem Abgang von Lewis Hamilton sofort auf George Russell als neuen Leader und auf den Rookie Kimi Antonelli gesetzt hatte. Eine Risikovariante, die sich nun erstmals richtig ausgezahlt hat.

Der 18 Jahre alte Italiener ist der drittjüngste Fahrer, der es auf ein Formel-1-Podium geschafft hat, und der sich ob seiner abgeklärten Art auf einen baldigen ersten Sieg freuen darf. Russell wiederum, der vielen nur als Platzhalter galt, falls Verstappen auf den Transfermarkt gelangen würde, sieht sich nun bestärkt. Der Brite fährt schon länger höchst effektiv, aber eben meist unauffällig. Das entspricht der Art und Weise, wie er auch in Kanada von der Pole-Position weg kontrollieren konnte. Einzig den Versuch einer Provokation gegen den wegen seiner vielen Strafpunkte unter besonderer Beobachtung stehenden Verstappen hätte er sich schenken können. Das zog einen späten Protest von Red Bull nach sich, der gut fünfeinhalb Stunden nach Rennende aber von der Rennleitung abgeschmettert wurde.

Russell nutzte seinen vierten Karrieresieg dann auch direkt für einen öffentlichen Vertragspoker: „Es gab Anfragen von anderen Teams, aber ich habe mit niemandem verhandelt. Für mich war schon immer klar, dass ich meinen Vertrag verlängern möchte. Mercedes hat mir die Chance gegeben, ich schulde ihnen etwas. Und ich weiß, dass ich in einer guten Position bin, wenn ich weiter solche Leistungen bringe.“ Dass er bisher so perfekt mit Antonelli harmoniert und an der Aufgabe des Mentors gewachsen ist, gibt ihm gerade an diesem Tag mit Blick auf das McLaren-Desaster einen moralischen Zusatzschub: „Wieso soll man etwas beenden, wenn es funktioniert?“

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