Dauerbeschuss aus Russland: Für Kiew ist die Hölle normal | ABC-Z

Vergangene Woche erleidet Kiew den schlimmsten Beschuss seit langem. 479 Drohnen schickte Russland in die Ukraine – in einer Nacht. Sie klingen wie Mopeds und sorgen für Angst und Schrecken. Wie hält man das aus?
Kiew hat in den vergangenen dreieinhalb Jahren viele harte Nächte erleben müssen. So eine wie die von Montag auf Dienstag gab es jedoch selten. Nicht einmal im Mai vor zwei Jahren, als die Russen die Hauptstadt der Ukraine nahezu jeden Tag angriffen. Die meisten der über 300 in der Nacht am Wochenbeginn eingesetzten Drohnen richteten sich gegen die Hauptstadt. Die Drohnen mit ihrem typischen Moped-artigen, nervigen Geräusch waren mehrere Stunden lang in allen Stadtteilen zu hören – ebenfalls wie die Schüsse der ukrainischen Flugabwehr. In sieben von zehn der Kiewer Stadtbezirke richteten sie Schäden an.
Was optisch meist nach Star Wars aussieht, ist in der Praxis kaum auszuhalten. Eine Alternative zum Durchhalten haben die Kiewer und Bewohner anderer ukrainischen Städte jedoch nicht. Angriffe oder zumindest Luftalarm sind spätestens seit Herbst 2024 tägliche Realität. Seitdem setzt Russland mehr und mehr Langstreckendrohnen gegen das ukrainische Hinterland ein. Einst galten 300 Drohnen pro Nacht als erstaunliche Rekordzahl. Jetzt können es auch mal 500 werden. So war es auch in der Nacht auf den 9. Juni. Die russische Armee setzte 479 Drohnen ein.
Der Krieg ist für die Menschen in der Ukraine ein Dauerzustand – auch in eigentlichen frontfernen Gebieten wie Kiew. Trotz allem versuchen die Menschen, soweit es geht, ihr normales Leben weiterzuführen: Zur Arbeit zu gehen oder mal abends eine Kneipe oder ein Restaurant zu besuchen. Doch alle wissen: Es geht alles andere als normal zu. Besonders die Männer sind von der sensiblen Mobilisierungsproblematik betroffen. Inzwischen gibt es kaum jemanden, der keine Familienmitglieder oder Freunde hätte, die kämpfen oder gar bereits verletzt oder getötet wurden.
Witze und Memes im Netz
Der Dauerbeschuss soll die Ukrainer erschöpfen und zermürben. Wer keinen Luftschutzkeller in der Nähe hat, sollte sich nachts gleich auf eine Matratze im Wohnungsflur legen. So wird man zumindest von zwei Wänden geschützt, falls das Fensterglas wegen der Druckwellen zerbricht. Memes und Witze wie “Ich hätte nicht gedacht, dass die Anmietung einer Wohnung im Haus mit Tiefgarage zur besten Investitionen meines Lebens wird” geistern schon zu lange durch das ukrainische Netz.
Das russische Vorgehen hat System. Auch wenn der Kreml behauptet, der erste der jüngsten Angriffe sei ein “Vergeltungsschlag” für die erfolgreiche ukrainische Operation “Spinnennetz” gewesen. Am 1. Juni gelang dem ukrainischen Inlandsgeheimdienst SBU dieser brisante Schlag. Mit Hilfe von auf Lkws transportierten First-Person-View-Drohnen wurden mehrere strategische Bomber getroffen. Diese feuern seit 2022 Raketen auf die Ukraine.
Die Ukrainer dürften nicht wie zunächst angegeben 41 Flugzeuge beschädigt haben. Es waren wohl nur elf, das zeigen Sattelitenbilder. Fünf weitere befinden sich im unklaren Zustand. Immerhin rund ein Zehntel der russischen strategischen Flotte – und Milliardenverluste durch eine vergleichsweise billige Operation.
Ohnehin befindet sich das Thema der sogenannten “Vergeltungsschläge” vor allem im Bereich der PR und Propaganda – auch dann, wenn die Ukraine selbst auch ihre erfolgreichen Aktionen als solche zu benennen versucht. Ein gutes Beispiel dafür ist die erste russische Angriffswelle gegen die ukrainische Energieinfrastruktur, die zwischen Oktober 2022 und März 2023 ununterbrochen lief. Damals versuchte Russland, den ersten Angriff nach der teilweisen Sprengung der Krim-Brücke als “Rache” darzustellen. Möglicherweise wurde der Beschuss der Energieanlagen damals tatsächlich um einige Zeit vorverlegt. Dass die Russen aber den ganzen Winter ukrainische Kraftwerke nur wegen der Krim-Brücke zerbombten, glauben sie wohl selbst nicht.
Mehr als zwölf Stunden am Tag ohne Strom
Mittlerweile nimmt Russland mit Blick auf die im Sommer stark genutzten Kühlungsanlagen wieder die Elektrizitätsversorgung ins Visier. So wie im vergangenen Jahr. In Kiew etwa gab es im Juli 2024 Phasen, in denen die Bewohner mehr als zwölf Stunden pro Tag ohne Strom auskommen mussten. So war der Sommer sogar schwerer als der Winter 2024/2025. Der Beschuss der Energieobjekte war systematisch – wenigstens half das vergleichsweise warme Wetter der Ukraine.
Ein anderes Ziel Russlands ist ebenfalls klar: die Flugabwehr. Die Riesenanzahl der eingesetzten Drohnen wird vor allem dafür eingesetzt, um die ukrainische Luftverteidigung zu überlasten und zu verwirren. So gut es geht, versucht die Ukraine daher, auf das Abfangen der Drohnen mit westlichen Flugabwehrsystemen zu verzichten, auch wenn dies trotzdem ab und zu passieren muss. Denn die sind teuer und kostbar – ob die USA weiter liefern, weiß niemand.
Die ganz große Gefahr geht jedoch von ballistischen Raketen aus, die nur mit dem US-System Patriot und Raketen der letzten Version PAC-3 oder mit dem französisch-italienischen System SAMP/T abgefangen werden können. Vom Letzteren soll die Ukraine lediglich zwei Stück haben – und Medienberichten zufolge sind die Raketenvorräte bereits erschöpft. Ein großes Problem für den Süden des Landes, wo sie stationiert gewesen sein sollen.
Komplizierter Sommer
Aber auch die Verfügbarkeit von Patriot-Systemen ist stark begrenzt. Für die Ukraine ist es essenziell, dass die USA PAC-3-Raketen weiter an Kiew verkaufen – und sei es über Länder der EU. Nicht zuletzt aufgrund der sich zuspitzenden Lage im Nahen Osten ist es allerdings zweifelhaft, ob der Verkauf an die Ukraine für die USA Priorität haben wird.
Auch abgesehen vom Luftkrieg steht der Ukraine ein komplizierter Sommer bevor. Einen wirklichen Durchbruch an der Front konnten die Russen immer noch nicht erreichen. Aber im Mai besetzte die russische Armee mehr ukrainisches Land als in jedem Monat seit Ende 2022. Die russische Sommerkampagne läuft. Der Fokus liegt weiterhin auf dem Norden der Region Donezk und Städten wie Kostjantyniwka, Kramatorsk und Slowjansk. Aber in der nördlichen Oblast Sumy entsteht ein neuer Frontabschnitt. Überraschend ist diese Entwicklung nicht: Dass Russland auf eine Sommeroffensive setzen würde, war abzusehen. Von deren Ergebnissen wird der weitere Verlauf des Krieges abhängen. Und in Kiew wird weiter Luftalarm sein.