Zahlen Chinas Arbeiter den Preis für den E-Auto-Boom? | ABC-Z

Die junge Frau traute sich, was sich in China nicht viele Arbeitnehmer trauen. Sie demonstrierte gegen ihren einstigen Arbeitgeber, die gescheiterte Automarke Jiyue. Die Proteste wirkten, sagt sie. „Sonst hätte es nicht so viel öffentliche Aufmerksamkeit gegeben. Und unsere Probleme wären nicht so schnell gelöst worden.“ So erzählt sie es der F.A.Z. am Telefon, namentlich genannt werden möchte sie nicht. Die schnelle Reaktion lag auch daran, dass mit dem Autoriesen Geely und dem Internetkonzern Baidu zwei der größten Unternehmen Chinas hinter der Marke standen, die große Ressourcen und einen Ruf zu verspielen haben.
Viele andere haben weniger Glück. Chinas Autoindustrie boomt zwar und läuft ausländischen Marken, nicht zuletzt den deutschen, den Rang ab: Die Elektroautos der Chinesen sind besser und günstiger. „Doch dieser riesige Innovationsschub geht klar auf Kosten der Lohnabhängigen“, sagt Boy Lüthje. Der Industriesoziologe arbeitet am Frankfurter Institut für Sozialforschung und ist seit vielen Jahren regelmäßig in China, unter anderem mit einer Stiftungsprofessur von Volkswagen.
„Es gibt eine wahnsinnige Konkurrenz“, sagt Lüthje. Denn seit Jahren schon gibt es schlicht zu viele Autohersteller in China, die zu viele Fabriken betreiben. Die Zahl der Marken wird oft auf über 100 geschätzt. Beobachter warten auf eine Bereinigung mit Insolvenzen und Fusionen. Doch die stellt sich bisher kaum ein. Deshalb jagt eine Preisrunde die nächste. Ende Mai senkte BYD seine Preise um bis zu ein Drittel, das günstigste Elektroauto gibt es nun für weniger als 7000 Euro. Andere Unternehmen zogen nach, ein Branchenverband warnte vor der zersetzenden Wirkung dieses Wettbewerbs. Auch die Regierung mahnte, doch das Grundproblem – die enormen Überkapazitäten – geht sie nicht an. BYD hält mit der aggressiven Preispolitik den Kostendruck hoch. Kunden profitieren, die Angestellten nicht.
Jahresgehalt von umgerechnet 8800 Euro
„Wir arbeiten neun bis elf Stunden am Tag“, sagt ein BYD-Arbeiter der F.A.Z. vor einer Batteriefabrik des Konzerns in Wuwei, einer Stadt in der ostchinesischen Provinz Anhui. Sie könnten wählen: Entweder sie arbeiteten eine oder zwei Wochen am Stück, bevor sie einen freien Tag einlegten. Ein BYD-Vorgesetzter aus der Fabrik schreibt in einer internen We-Chat-Nachricht, die der F.A.Z. vorliegt: „An alle. Im Juni arbeiten wir 14 Tage, 1 freier Tag.“ Die Arbeiter kommen mit diesen 14-Tage-Wochen auf Wochenarbeitszeiten zwischen 50 und fast 80 Stunden. Netto, nach Abzug von Steuern und Sozialabgaben, erhält der Arbeiter nach eigenen Angaben monatlich 4500 RMB, umgerechnet 550 Euro. Obendrauf kommen Zuschläge für Überstunden. Brutto erhalte er monatlich 6000 RMB. Daraus ergibt sich ein Jahresgehalt von 72.000 RMB, umgerechnet rund 8800 Euro. Weitere Personen in Wuwei, mit denen die F.A.Z. gesprochen hat, bestätigen die Werte.
Die Zahlen machen deutlich, wie sehr der Produktionsstandort Deutschland unter Druck ist. In den Fabriken von BYD arbeiten die Angestellten mitunter doppelt so lange wie in Deutschland, verdienen aber nur rund ein Sechstel. Die IG Metall bezifferte das Bruttogehalt für Angestellte in der VW-Produktion zuletzt auf gut 53.000 Euro im Jahr. Porsche zahlte seinen Mitarbeitern in guten Jahren mehr Sonderboni aus, als die BYD-Arbeiter im Jahr verdienen. Oder plakativer ausgedrückt: Deutschland diskutiert über eine Viertagewoche, BYD hat eine 14-Tage-Woche.
„Die Krise findet nicht nur bei VW in Wolfsburg statt. Die ist auch in China“, sagt Lüthje. Der globale Wettbewerb, so seine Analyse, verschlechtert die Arbeitsbedingungen überall auf der Welt. In China komme hinzu, dass die Industrie früher von Gemeinschaftsunternehmen ausländischer Hersteller mit Staatskonzernen dominiert war, die traditionell höhere Löhne zahlen. Nun treiben private Unternehmen die Branche vor sich her.
Arbeiter leben auf engem Raum
Die Arbeiter in Wuwei leben ein BYD-Leben. Sie wohnen in Plattenbauten auf dem Fabrikgelände, sechs bis acht Arbeiter in einem Zimmer. In einem Video aus einem der Gebäude, das der F.A.Z. vorliegt, sind in einem gut 15 Quadratmeter großen Zimmer vier Doppelstockbetten zu sehen. Das gemeinsame Bad ist draußen auf einer Art überdachtem Balkon. Der Duschkopf hängt über der in den Boden eingelassen Hock-Toilette. Es sind Bedingungen, die für China nicht unüblich sind und die kaum jemand in China für problematisch halten würde.
Direkt neben den Plattenbauten hat der Konzern für den Bau eines Einkaufszentrums gesorgt. Dort bekommen die Arbeiter Rabatt im Hotpot-Restaurant, können sich tätowieren lassen, Billard spielen oder Karaoke singen. Auch ihre wenigen freien Tage können sie also im BYD-Reich verbringen.
Solange die chinesischen Hersteller vor allem in China unterwegs waren, nahm das Ausland von den Arbeitsbedingungen kaum Notiz. Da BYD und Co. nun aber in alle Welt expandieren, wird das Problem immer stärker sichtbar. Ende Mai reichten brasilianische Staatsanwälte Klagen gegen BYD und zwei Auftragnehmer ein, sie werfen den Unternehmen Sklavenarbeit und Menschenhandel auf einer Fabrikbaustelle vor. Insgesamt 220 chinesische Arbeiter hätten unter „entwürdigenden“ Bedingungen gehaust. Von BYD in Brasilien hieß es, man arbeite mit der Staatsanwaltschaft zusammen. Das Unternehmen bekräftigte sein „unverhandelbares Engagement für Menschen- und Arbeitsrechte“. Als die Bilder aus den Unterkünften in Brasilien in China die Runde machten, machte sich indes nicht Entrüstung breit, sondern eher Schulterzucken: Das seien eben die gleichen Bedingungen wie in China, urteilten nicht wenige Chinesen.
Was das chinesische Arbeitsrecht vorgibt
Dongfang Han untersucht seit vielen Jahrzehnten die Arbeitsbedingungen in der Volksrepublik. „Unsere Beobachtung ist: Man findet kaum eine Fabrik, die nicht gegen das Arbeitsrecht verstößt“, sagte Han der F.A.Z. Er ist Gründer und Herausgeber des „China Labour Bulletin“, einem Magazin, das sich seit den Neunzigerjahren mit der Lage der Arbeiter in China beschäftigt.
„Das chinesische Arbeitsrecht sagt sehr klar: acht Stunden am Tag, fünf Tage in der Woche, nicht mehr als 36 Überstunden im Monat“, sagt Han, der einer der bekanntesten chinesischen Arbeitsrechtsaktivisten ist. Wer das überschreite, verstoße gegen das Arbeitsrecht. Auch die BYD-Fabrik in Wuwei verstößt den Angaben der Arbeiter zufolge gegen chinesisches Arbeitsrecht. Der Konzern reagierte bis Redaktionsschluss nicht auf eine Anfrage der F.A.Z.
Ob die Fabrik einem chinesischen oder einem ausländischen Unternehmen gehöre, mache kaum einen Unterschied, sagt Han. In der Tesla -Fabrik in Shanghai würden die Arbeiter sechs oder sieben Tage in der Woche und jeden Tag zwölf Stunden arbeiten, sagt er. Im April berichtete „China Labour Bulletin“ von Protesten in BYD-Fabriken in Chengdu, Hauptstadt der Provinz Sichuan, und in Wuxi unweit von Shanghai. Die Angestellten würden eine faire Bezahlung fordern, hieß es.
Kaum institutionelle Widerstandsmöglichkeiten
„Unsere Forschung zeigt, dass die Gewerkschaften in den meisten Fabriken vom Management kontrolliert werden“, sagt Han. „Manchmal sind hochrangige Manager sogar die Vorsitzenden“, sagt er. „Wie soll man da verhandeln? Da spricht die linke Hand des Managers mit der rechten Hand.“ Auch Lüthje hält fest: „Die institutionellen Widerstandsmöglichkeiten sind kaum oder gar nicht vorhanden.“ Es gebe kaum kollektiven Widerstand. Nur einzelne Beschäftigte würden es mit Klagen versuchen.
Einer von ihnen ist Herr Zhang. Er ist indes keiner der Arbeiter am Band, sondern war Ingenieur bei einem Pekinger Staatskonzern und damit einer der Gutverdiener. Er berichtet im Gespräch mit der F.A.Z. von den Methoden, mit denen ihm mitgespielt wurde. Aus Sorge, dass er dann identifizierbar sein könnte, will er nicht, dass der Name des Unternehmens hier genannt wird. Auch er heißt eigentlich anders.
Dem Unternehmen geht es nicht gut, weil es den Boom der Elektroautos verschlafen hat. BYD setzt nicht nur den deutschen Konzernen zu, sondern auch den staatseigenen chinesischen Unternehmen. Autos, in denen Huawei-Technologie verbaut wird, sollen für das Unternehmen die Rettung bringen. In dieser Einheit arbeitete der Software-Ingenieur, der Mitte vierzig ist. „Die haben mich angestellt, weil ich erfahren bin. Und als sie glaubten, dass sie alles gelernt haben, was ich kann, haben sie mich gefeuert.“ Wobei es eigentlich keine Entlassung gewesen sei. „Sie haben mich gequält. Sie geben dir das Gefühl, nicht gut genug zu sein.“
Prekäre Arbeitskultur
In halbjährlichen Bewertungen habe er ohne Begründung schlechte Noten erhalten, die zu Gehaltssenkungen führten. Statt knapp 80.000 Euro im Jahr habe er weniger als die Hälfte bekommen. Wer das Unternehmen nach den negativen Bewertungen nicht verlasse, bekomme am Ende Mindestlohn, sagt Zhang. In Peking wären das keine 300 Euro im Monat. Zhang wurde in den Verkauf versetzt, in dem er kein Training bekommen und keine Erfahrung habe. Eine Kamera sei direkt auf ihn gerichtet gewesen. „Sobald ich zehn Minuten nicht am Schreibtisch war, habe ich eine Nachricht bekommen, wo ich denn sei“, sagt er. „Ich habe in vielen Unternehmen gearbeitet. Aber ich hätte nie gedacht, dass ich in einem staatseigenen Unternehmen in Peking so behandelt werde.“
Er berichtet von einer prekären Arbeitskultur: „Die Chefs der Abteilungen sagen neuen Angestellten bis heute: Du musst lernen niederzuknien. Wenn Du nicht lernst niederzuknien, was willst Du dann in unserer Abteilung?“ In Gesprächen mit Kollegen habe es manchmal geheißen: „Die Hälfte unseres Gehalts bekommen wir für das Geschimpfe.“
Eine schwangere Kollegin sei ähnlich schlecht behandelt worden wie er. Erst habe sie sich gewehrt, dann aber aufgegeben. Sie erhielt eine Abfindung. Für jedes Jahr im Unternehmen ein Monatsgehalt und ein weiteres obendrauf. Zhang würde vier Monatsgehälter erhalten. Nach den Gehaltssenkungen sei das auch nicht mehr viel, sagt er. Zhang zog vor Gericht. Optimistisch war er schon beim Treffen mit der F.A.Z. nicht. „Der Richter will das Unternehmen schützen, weil es viele Steuern zahlt“, glaubt er. Vor einigen Monaten sollte das Urteil fallen. Seitdem antwortet er nicht mehr.