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Handball-Bundesliga: HC Erlangen gewinnt in Bietigheim, ist aber noch nicht gerettet. – Sport | ABC-Z

Als Carsten Bissel aus den Katakomben der Bietigheimer Halle tritt und Richtung Spielfeld läuft, hat er einen Talisman in der Hand. Das Spiel ist zwar schon gespielt, der HC Erlangen hat längst mit 29:23 bei der SG BBM Bietigheim gewonnen und damit einen überlebenswichtigen Sieg im Abstiegskampf der Handball-Bundesliga gelandet – aber Bissel trägt den Glücksbringer jetzt trotzdem noch bei sich, sicher ist sicher. Ein Junge, erzählt Erlangens Präsident, habe ihm den gläsernen Anhänger in die Hand gedrückt, ein Geschenk für Christopher, seinen Sohn, der den HCE als Kapitän anführt.

Bissel, 60, ist nach wie vor angespannt. Er kommt gerade aus der Mannschaftskabine, jetzt muss er sich erst einmal setzen, um runterzufahren. Also greift er nach einem Stuhl, der am Spielfeldrand steht, und lässt sich hineinfallen. Bissel, blaues T-Shirt, die Haare akkurat, obwohl er in den vergangenen zwei Stunden eine Menge durchgemacht hat, steht immer noch unter Strom.

„Ich habe mir schon am Freitag Sorgen gemacht“, sagt Bissel, „ich wusste, dass die Mannschaft besser ist als Bietigheim, aber ich wusste nicht, ob sie es nervlich in den Griff bekommt.“ Schließlich stand eine Menge auf dem Spiel, es ging um nicht weniger als die Erlanger Bundesliga-Existenz, doch die Mannschaft hielt dem gewaltigen Druck mit einer grandiosen Charakterleistung stand und gewann. Jetzt sitzt Bissel in der fast leeren Bietigheimer Halle und fragt: „Was soll ich dazu sagen?“ Er findet: „Es ist ein Unterschied wie Tag und Nacht, wie wir vorher gespielt haben und wie wir jetzt auftreten.“

Neben Bissel sammelt ein Helfer leere Plastikflaschen und Klatschpappen ein – und auch er, Bissel, hat in dieser Saison schon ein paar Mal aufgeräumt. So könnte man das ja nennen, was sich erst im Oktober und dann im Februar noch ein zweites Mal zutrug: Carsten Bissel griff durch. Er räumte auf. Vor acht Monaten stellte er Trainer Johannes Sellin in Absprache mit dem Aufsichtsrat schon nach dem vierten Spieltag frei, und ein paar Wochen später, im Februar, übergab er ihm auf einmal doch wieder die Mannschaft. Ein, jedenfalls auf den ersten Blick, ziemlich sonderbarer und verwunderlicher Kurs, doch Bissel kann ihn erklären.

„Johannes war in den ersten vier Spielen dieser Saison noch nicht zu 100 Prozent bereit für die zugegebenermaßen wirklich schwere Aufgabe“, sagt Bissel auf seinem Stuhl am Spielfeldrand, „deswegen hat es ihm gutgetan, zur Ruhe zu kommen und ins zweite Glied zurückzugehen.“ Zu sehr nahm es Sellin mit, dass sein Team nicht in Tritt kam, zu geschafft war er. Heute bekräftigt Bissel im Rückblick: „Das war die richtige Entscheidung. Wir wussten aber, dass Johannes ein unfassbarer Handball-Fachmann ist, der eine große Trainerkarriere vor sich haben kann.“

Und so kehrte Sellin schon im Februar zurück. Weil die Mannschaft sechsmal nacheinander verloren hatte und Richtung Abstieg taumelte. Weil es einfach nicht mehr ging mit Martin Schwalb, Sellins Nachfolger, unter dem Erlangen kein Stück vorankam. Und, und das war der zentrale Grund: weil Sellin jetzt bereit zu sein schien für die große Bühne.

„Ich habe gewusst, dass die Außenwirkung dieses Moves massiv kritisiert wird“, sagt Bissel. Dann legt er eine kurze Pause ein, damit der Satz sitzt wie ein harter Wurf aus dem Rückraum, den man zwar kommen sieht, letztlich aber doch nicht abwehren kann: „Aber wir alle im Verein waren davon überzeugt, dass es das einzig Richtige ist. Und nur das zählt. Und nicht, was andere krakeelen.“ Also zog es der Verein durch. Und jetzt, da Erlangen sein vorletztes Saisonspiel in Bietigheim gewonnen hat, könnte der Abstiegskampf tatsächlich noch ein gutes Ende nehmen.

Erlangen hat es nicht mehr selbst in der Hand, Bietigheim und Stuttgart schon

Als Sellin im Februar wieder übernahm, war schon mehr als die Hälfte der gesamten Saison gespielt, und der HCE hatte gerade einmal fünf Punkte auf dem Konto. 14 Partien später stehen die Franken mit einer Ausbeute da, mit der sie, hochgerechnet auf 34 Spieltage, Elfter wären – der oberen Tabellenhälfte deutlich näher als der Abstiegszone.

Sellin, 34, hat Erlangen also auf Kurs gebracht. Seit er wieder das Sagen hat und die Mannschaft gemeinsam mit Matthias Obinger als erfahrenem Trainerkollegen anleitet, ist der HCE konkurrenzfähig. Das hat eine Menge mit Sellins Selbstreflexion, mit seiner Aufnahmebereitschaft und mit seiner Hingabe zu tun. Dem einstigen Rechtsaußen gelingt es mittlerweile, seine Leidenschaft in die richtigen Bahnen zu lenken, den Ton zu treffen und in derart jungen Jahren eine Bundesliga-Mannschaft zu führen. Es ist eine wahrlich große Aufgabe, die Sellin da zu meistern hat, doch inzwischen wird er ihr auch unter allerhöchstem Druck gerecht.

Ob sich am Ende tatsächlich alles fügt, hängt allerdings nicht nur vom HCE selbst ab, sondern auch von anderen Mannschaften. Weil Sellins Team nur noch ein Spiel zu bestreiten hat, die Konkurrenz aber zweimal punkten kann, ist Erlangen auf Hilfe angewiesen. Wenn Bietigheim an diesem Mittwoch in Leipzig spielt, bevor Stuttgart am Donnerstag in Göppingen zu Gast ist, müssen die Franken tatenlos zuschauen. Erst am letzten Spieltag, am Sonntag in Wetzlar, greifen sie wieder ein.

Bietigheim, Stuttgart oder eben doch Erlangen: Einer wird dem VfL Potsdam in die zweite Liga folgen. Noch ist alles offen, aber Bissel zuckt nicht einmal mit der Wimper und sagt: „Ich bin optimistisch, wirklich sehr optimistisch.“

Die anderen Teams müssen zwar mitspielen, und auch Johannes Sellin und seine Spieler haben erst einmal zu liefern, aber das werden sie, da ist sich Carsten Bissel sicher. Er hat jetzt ja einen Talisman.

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