Ein Leuchtturm wird versetzt: Hingucker, 140, sucht neues Heim – Kultur | ABC-Z

In der Deutschen Bucht steht er wie eine rot-weiß gestreifte Eins: Der 140 Jahre alte Leuchtturm mit dem schönen Namen „Roter Sand“ ist allerdings nicht aus rotem Sand, zum Glück, sondern aus Stahl, Beton, Backstein und Zukunftslust erbaut. Das hat lange gehalten. Ingenieursbaukunst vom Feinsten. Gelegen nordöstlich der Insel Wangerooge beträgt die Feuerhöhe 24 Meter. Und auch wenn das Feuer seit 1904 elektrifiziert ist: Das Ding ist on fire.
Entworfen von Carl Friedrich Hanckes und errichtet bis 1885, wurde der Leuchtturm zum weltweit ersten Offshore-Bauwerk. Ein Symbol des technischen Fortschritts im Deutschen Kaiserreich. Seufz. Zum Verfall der deutschen Infrastruktur und der aktuellen deutschen Zukunftslust: gern ein anderes Mal mehr. Jedenfalls dient der Leuchtturm heute nicht mehr als Leuchtfeuer, sondern als „Tagessichtzeichen“. Der alte Turm und das Meer: ein perfektes Paar.
Übrigens stimmt es nicht, wie in Abenteuerromanen oft behauptet, dass Piraten Leuchttürme versetzt hätten (wie auch?), um Schiffe an den Strand zu lotsen – wo die Strandräuber auf fette Beute warteten. Ein Mythos. Doch in diesem Fall könnte es wahr werden. Der denkmalgeschützte, gleichwohl gefährdete Leuchtturm soll umziehen. Von der See aufs Festland. Um fette Beute geht es also schon. Nur ist es die des seltsamen Stadtmarketings in einem Wettbewerb, der immer logischer erscheint.
Dem Turm im Meer haben Wind und Wellen zugesetzt. Er ist müde geworden. Eigentlich marode. Wie übrigens vieles in Deutschland. Siehe auch: Brücken, Straßen, Schulen, Museen und so weiter und so fort. Ein Erbe, das man auch hätte pflegen und bewahren können. Jedenfalls entstand die Idee, das bekannte, aber zum ursprünglichen Standort nicht mehr taugliche Bauwerk in einer piratenhaften Rettungsaktion an Land zu versetzen.
Prompt gibt es ein Gerangel um den Rentner-Turm, der dem Bund gehört. Als mögliche Standorte haben sich nun Wilhelmshaven, Bremerhaven, Hooksiel sowie Fedderwardersiel auf der Halbinsel Butjadingen beworben. Erst im Sommer, so die Deutsche Stiftung Denkmalschutz, die den Bau verwaltet, soll die Entscheidung über die Zukunft des Hotspots fallen. Die Ruhe vor dem Turm.
In Fedderwardersiel, das ist unbedingt sympathisch, dürfte es mehr Granat geben, also: Butjenter Krabben, als Einwohner. Die Homepage („tauche ein in das maritime Flair von Fedderwardersiel“) spricht von 250 Einwohnern. Wikipedia hat vor einigen Jahren 195 gezählt. Scheint ja eine echte Boomtown zu sein. Und somit ist das der richtige Ort für einen Turm, dessen Wesen die Sichtbarkeit ist. Die Strahlkraft. Das Guck-mal-Moment. Das Besondere. Das Charakteristische. Das Zeichenhafte.
Welches moderne Gebäude ist schon würdig, gesehen zu werden?
Genau deshalb kann man auch gut verstehen, warum ein nicht mehr ganz rüstiger, jedenfalls in Ehren ermatteter Turm in der Aktivrente weiterhin für maritimes Flair sorgen soll. Es gibt nämlich immer weniger zeitgenössische Bauten, die vital genug und würdig wären, gesehen zu werden, eben als Sehenswürdigkeiten. Und immer mehr öffentliche Räume in unseren so modernen wie austauschbaren Städten, die leider so sind: alles andere als besonders. Nämlich banal, uninteressant und oft nur besonders hässlich.
Deshalb ist klar, dass Gemeinden um so ein Bauwerk konkurrieren. Oder dass sie noch auf ganz andere Ideen kommen, um irgendwie zu Dingen zu gelangen, die sehens- und erinnernswert wären. Echte Sehenswürdigkeiten sind ja leider sehr selten im Insta-Zeitalter, das einen großen Bedarf an Identifikatorischem hat. Aber wenig, womit man sich identifizieren könnte. Oder möchte. Auf diese Weise ist Haddeby/Busdorf im Kreis Schleswig-Flensburg nun schon seit einiger Zeit stolz auf ein Ampelmännchen in Wikinger-Form samt Hackebeil, Schild und Helm.
In München gibt es eine Pumuckl-Ampel (im Lehel), in Augsburg ist es das Kasperle in der Nähe der Augsburger Puppenkiste, das den Verkehr regelt, in Bremen firmieren Esel, Hund, Katze und Hahn in Grün, Gelb oder Rot – und in Friedberg lotst Elvis mit seinem legendären Hüftschwung die Leute über die Straße. Der Stern hat vor einigen Jahren „mindestens 20 deutsche Städte“ gezählt, die per Ampelmännchen allesamt eines sein wollen: was Besonderes.
Das Bedürfnis nach Eigensinn und Erkennbarkeit ist nachvollziehbar. Dazu gesellt sich dann immer häufiger das Elend des Stadtmarketings, das sich das Spezielle wünscht, aber recht erwartbar im alltäglich Absurden landet. Das gilt zum Beispiel für jene Stadt, die eigentlich Herford heißt, aber ausweislich eines mittlerweile abmontierten Schildes am Bahnhof inzwischen auch bekannt ist als „Heimat der Poggenpohl-Küchen“. Der unique selling point: eine stete Quelle des unfreiwillig Komischen im Stadtraum. Irgendwann steht man dann auf diese Weise in Kiel („Sailing City“) und wünscht sich, Borowski würde kollektiv das Stadtmarketing-Team verhaften in der „Tatort-Stadt“.
Die Sehnsucht (vielleicht ist es ja auch eine Seh-Sucht) nach Wiedererkennbarkeit, also nach einem der wichtigsten Rohstoffe in der Ökonomie der Aufmerksamkeit, die zugleich die ikonische Ära markiert, ist typisch für eine an Bildern reiche und an Charakter arme Gegenwart. Früher dafür zuständig: bemerkenswerte Stadträume, unvergleichliche Bauwerke, einzigartige Kirchen, ortstypische Wirtshäuser, regionale Kultur, Sprachfarbe … Aber all das war vor dem Siegeszug der immergleichen Fastfood-Filialen, der immergleichen Discounter, der immergleichen Fußgängerzonen und der immergleichen Stararchitekturen der Signature Buildings und, tja, Leuchtturmprojekte.
Was bleibt? Ein alter Leuchtturm. Er soll leben.