Freikirchen-Aussteigerin packt aus: „Ich wurde geistlich missbraucht“ | ABC-Z

Berlin. Viele Jahre war Daniela Mitglied einer Freikirche. Doch als sie anfing, das Weltbild zu hinterfragen, begann für sie der Psychoterror.
Es gibt Dinge, für die sich Daniela-Marlin Jakobi immer noch schämt. Dinge, die sie gedacht hat, als sie Mitglied einer fundamentalistisch-christlichen Freikirche war. „Ich war überzeugt davon, dass Homosexualität eine Sünde ist und dass alle queeren Menschen in der Hölle landen werden“, erzählt die 30-Jährige. Heute, drei Jahre nach ihrem Ausstieg, tut es ihr immer noch leid, wie viele Jahre ihres Lebens sie homophob gewesen ist. „Ich
habe versucht, die Bibel wörtlich zu nehmen, aber habe sie letztlich queerfeindlich interpretiert.“
Dabei ist Daniela in einem ziemlich liberalen Umfeld aufgewachsen und hatte keine religiöse Kindheit. Eine Kirche von innen hat sie meistens nur an Weihnachten gesehen. „Ich hatte zwar auch eine Konfirmation, aber habe mich nicht wirklich mit dem Glauben beschäftigt“, erzählt die junge Frau aus Rheinland-Pfalz. Doch das ändert sich schlagartig in ihrer Jugend.
Viele Jahre erlebt sie in ihrer Schulzeit Ausgrenzung und Mobbing. Ihre Mitschülerinnen und Mitschüler schikanieren Daniela, machen sich über sie lustig. „Ich war nie Teil einer Klassengemeinschaft, wurde nie zu Partys eingeladen und fühlte mich dadurch sehr lange sehr einsam“, erzählt die 30-Jährige. Mit 15 verfasst sie einen Beitrag auf Facebook, in dem sie über ihre Einsamkeit und Ablehnung spricht. Kurze Zeit später wird sie von einer jungen Frau angesprochen, die Daniela bereits von Busfahrten kennt.
In der Freikirche fühlte sich Daniela zum ersten Mal dazugehörig
Die beiden kommen ins Gespräch und die junge Frau lädt Daniela zu einer Silvesterfeier in ihre christliche Gemeinde, eine Freikirche, ein. Daniela nimmt die Einladung an, obwohl ihre Mutter von Anfang an skeptisch ist, was diese Freikirche angeht. Doch bei der Silvesterfeier fühlt sich Daniela sofort willkommen und wohl: „Da habe ich zum ersten Mal eine Gemeinschaft erlebt, wo ich so sein konnte, wie ich bin. Das war ein komplett anderes Gefühl als das in meiner Klassengemeinschaft.“
Von da an geht Daniela regelmäßig in die besagte Freikirche, nimmt an Gottesdiensten teil und wird zum aktiven Mitglied der Gemeinde. „Ich hatte auf einmal Freunde und ein soziales Leben, das mich total erfüllt hat. Das hat mein Selbstwertgefühl enorm gesteigert“, erzählt Daniela.
Dr. Martin Fritz, Theologe von der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen.
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Dass Freikirchen, die sich anders als Landeskirchen nur von Spenden finanzieren, auf ein starkes Gemeinschaftsgefühl setzen, sei ein typisches Merkmal dieser Organisationen, sagt Dr. Martin Fritz von der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen. Der Theologe beschäftigt sich in seiner Forschung besonders mit christlichen Strömungen des Fundamentalismus. „Generell herrscht in Freikirchen eine höhere soziale Verbindlichkeit und das Gemeindeleben hat dort einen ganz anderen Stellenwert als in Landeskirchen, es ist für viele Mitglieder der Mittelpunkt des sozialen Lebens“, erklärt Martin Fritz. Wie viele Menschen sich genau in freikirchlichen Gemeinden engagieren, ist laut Fritz nur schwer feststellbar.
Die meisten Freikirchen sind in ihrer Auslegung erzkonservativ
Auch für Daniela wird ihre Freikirche mit den Jahren zum absoluten Mittelpunkt ihres Lebens. Sie verbringt jede freie Minute dort, setzt sich mit vollem Eifer für die Gemeinde ein und wird online zur sogenannten Christfluencerin, die offen ihre fundamentalistischen Weltansichten teilt: „Mein ganzes soziales Leben spielte sich in der Freikirche ab.“ Dabei ist Daniela lange Zeit nicht wirklich klar, dass sie in eine fundamentalistische, also eine sehr streng religiöse Gemeinde, reingerutscht ist.
Denn die besagte Freikirche ist evangelikal geprägt. Die Bezeichnung meint heute ein bibeltreues Christentum, das sich von liberalen Auslegungen der Religion abgrenzt. „Mir wurde beigebracht, dass in unserer Gemeinde der einzig richtige christliche Glaube gelebt wird, anders als etwa in Landeskirchen. Und das habe ich lange Zeit nicht wirklich hinterfragt“, erzählt die 30-Jährige.
Solche Aussagen seien typisch für das dualistische Weltbild, das in vielen Freikirchen herrscht, sagt Theologe Martin Fritz. „Ganz nach dem Motto: ‚Hier bei uns ist die Gemeinschaft der Frommen, draußen die gottlose Welt‘“, so der Experte. Nicht alle Freikirchen würden die gleichen Positionen vertreten, „denn das Feld der Freikirchen ist unglaublich weit und divers.“ Viele Freikirchen seien jedoch besonders erzkonservativ und würden „moralisch fragwürdige Positionen“ vertreten.
Freikirchen-Aussteigerin berichtet: „Frauen sollten jung heiraten“
So auch die Freikirche, in die Daniela elf Jahre lang ging. „Abtreibung, Sex vor der Ehe und Selbstbefriedigung galten ebenso als Sünde wie Homosexualität“, erzählt die junge Frau. Auch Feminismus sei für viele Probleme in der Gesellschaft verantwortlich gemacht worden, denn das Frauenbild musste konservativen Werten entsprechen: „Es wurde viel Wert drauf gelegt, dass Frauen jung heiraten und gleich Kinder bekommen.“ Gleichzeitig wurde eine Scheidung nicht anerkannt, denn „was Gott zusammengeführt hat, darf der Mensch nicht trennen“. In all den Jahren isoliert sich Daniela immer weiter von der Außenwelt, auch von ihrer eigenen Familie, die sie missionieren will, um sie „vor der Hölle zu retten“.
Dann passiert etwas, was Daniela nie für möglich gehalten hat: Sie fängt an zu zweifeln. „Ich lernte meinen jetzigen Ehemann kennen, der zwar gläubig, aber kein Mitglied der Freikirche war. Ich merkte, dass er ganz anders an Jesus glaubt und das hat eine ziemliche Lawine in meinem Glaubensleben ausgelöst“, erzählt die 30-Jährige.
Zusammen mit ihrem Freund, der Theologie studiert hat, debattiert sie lange darüber, ob man die Bibel wörtlich nehmen kann und warum Homosexualität keine Sünde sein kann. „Nach und nach begann ich die Strukturen zu hinterfragen, die mich so lange geprägt haben und mein Glaubensfundament, das ich mir in schwarz und weiß aufgebaut habe, brach wie ein Kartenhaus in sich zusammen“, erinnert sich Daniela.
Geistlicher Missbrauch: „Wurde gedemütigt und bloßgestellt“
Viele Fragen, auf die sie keine Antworten finden kann, teilt sie öffentlich auf ihrem Blog. Doch ihre Zweifel werden in der Freikirche gar nicht gern gesehen. Von da an fühlt sich Daniela als schwarzes Schaf der Gemeinde. Die Situation eskaliert völlig, „als ich geistlich missbraucht wurde“, erzählt die 30-Jährige. Unter geistlichem Missbrauch versteht man, wenn geistliche Leitungspersonen ihre Macht und den Glauben missbrauchen, um Menschen nach ihrem Willen zu manipulieren.
Das erlebt Daniela nach eigenen Worten unter anderem in einer öffentlichen Predigt im Jahr 2022, als sie von einer Autoritätsperson vor allen Mitgliedern gedemütigt und bloßgestellt wird. „Wahrscheinlich wollten sie damit meine Zweifel irgendwie unter Kontrolle kriegen“, vermutet die junge Frau.
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Nach diesem Erlebnis stürzt Daniela in eine schwere Depression und leidet an Suizidgedanken. Sie fühlt sich verletzt, hat aber gleichzeitig große Angst von der Gemeinde ausgeschlossen zu werden. „Ich habe diese Menschen über alles geliebt und trotzdem taten sie mir so weh“, beschreibt es die 30-Jährige. Schließlich muss sie sich eingestehen, dass ihr „safe space“ ihr gar nicht mehr guttut und ein Ausstieg unvermeidbar ist. Nach elf Jahren in der Gemeinde verlässt sie diese, doch damit verliert sie nahezu ihr gesamtes soziales Umfeld. Denn nach ihrem Ausstieg wenden sich die meisten Menschen in der Freikirche von ihr ab: „Es war eine furchtbare Zeit.“
Experte zum Ausstieg: „Viele fallen erstmal in ein tiefes Loch“
Auch der Theologe Martin Fritz kann bestätigen, dass viele Menschen nach ihrem Ausstieg aus der Freikirche erstmal in ein tiefes Loch fallen: „Viele erleben den Ausstieg als etwas Befreiendes, gleichzeitig reißt es ihnen den Boden unter den Füßen weg, denn sie fühlen sich nicht mehr so intensiv aufgehoben. Viele Menschen kämpfen noch nach Jahren mit Selbstzweifeln, ob der Ausstieg die richtige Entscheidung war.“
Daniela bereut ihren Ausstieg aus der Freikirche nicht: „Rückwirkend kann ich sagen, dass die Freikirche wie eine Sekte war.“ Heute, drei Jahre, später fühlt sie zwar manchmal immer noch die Nachwehen dieser Zeit, doch sie ist wieder glücklich. Sie machte eine Therapie und verarbeitet ihre Erlebnisse weiterhin auf ihren Online-Kanälen, dort klärt sie auch über die Gefahren der fundamentalistischen Freikirchen auf, wofür sie auch oft angefeindet wird. „Ich lass mir den Mund aber nicht mehr verbieten“, sagt sie. Trotz der negativen Erlebnisse hat sie ihren Glauben nicht verloren. „Mein Glauben ist heute jedoch von Frieden und Freiheit bestimmt – und nicht mehr von Verboten.“
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Anmerkung der Redaktion: Die Freikirche, gegen die Daniela-Marlin Jakobi Vorwürfe erhebt, war für eine Gegendarstellung nicht zu erreichen. Die Anfrage unserer Redaktion bleib auch nach mehreren Tagen Wartezeit unbeantwortet.