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DFB-Pokal: Cup der Träume | ZEIT ONLINE | ABC-Z

In
unserer Kolumne “Grünfläche” schreiben abwechselnd Oliver Fritsch,
Christof Siemes und Stephan Reich über die Fußballwelt und die Welt des
Fußballs. Dieser Artikel ist Teil von ZEIT am Wochenende, Ausgabe 22/2025.

Hätte-wäre-wenn-Fragen sind natürlich immer müßig. Hätte ich
ein besseres Zeitmanagement, müsste ich diesen Text nicht nachts um drei
schreiben. Wäre ich im Deutschunterricht aufmerksamer gewesen, würde dieser
Satz nicht mit einem Grammatikfehler geendet. Wenn ich den Text schon vergangene
Woche geschrieben hätte, könnte ich jetzt mein Honorar auf den Kopf hauen.
Aber nun ist es eben so, dass aktuell über ganz Bielefeld eine
Hätte-wäre-wenn-Frage schwebt. Wahrscheinlich sorgt sie bei dem ein oder
anderen Anhänger der Arminia auch für schlaflose Nächte. Hätte Noah
Sarenren-Bazee mal in der 12. Minute des Pokalfinals gegen den VfB Stuttgart
getroffen … Wäre der Ball mal nicht an die Latte geklatscht … Wenn, dann,
hätte, hätte …

Nun hat Sarenren-Bazee eben doch die Latte getroffen, und
ohnehin wäre den Stuttgartern ja durchaus zuzutrauen gewesen, das Spiel trotz
Rückstand zu gewinnen. So oder so war die Finalteilnahme der Arminia ein
Highlight, nicht nur für die Zehntausenden Ostwestfalen, die glückstrunken durch Berlin und ihr plötzlich so mildes Fußballschicksal gleichermaßen
torkelten. Es stand und steht unter dem schönen Motto “Einmal im Leben”. Der
Alltag der Arminen ist üblicherweise (und trotz Zweitligaaufstieg) eher grau,
plötzlich also dieser Tag im Rampenlicht. Eine blau-weiße Erinnerung daran, was
in diesem schönen Sport noch möglich ist, zumindest im Pokal.

Die Leute gehen zum Fußball, weil sie nicht wissen, wie es
ausgeht, sagte einst Sepp Herberger. Das mag zu seinen Zeiten gestimmt haben,
im Jahre 2025 stimmt es nur noch bedingt. Fährt man als Gäste-Fan in der Liga
zum FC Bayern München, weiß man relativ sicher, dass man die Rückreise mit
vier, fünf Gegentoren und schlechter Laune im Gepäck antreten wird. Guckt man
auf die Tabelle, ist praktisch klar, dass auf Strecke die vier, fünf Clubs vor
einem landen werden, die sämtlicher finanzieller Sorgen entbunden sind. Der
Fußball ist ein Club der Reichen geworden, in dem alle anderen allzu oft nur
noch die Kulisse bilden. Das ist traurig, aber siehe oben: Es ist eben so.

Im Normalfall. Nur der Pokal ist glücklicherweise kein
Normalfall. Er hat, wie wir alle wissen, seine eigenen Gesetze, und die konnte
man in dieser Saison nicht nur in Deutschland bestaunen. (Wo Bielefeld
nacheinander die Bundesligisten Union Berlin, SC Freiburg, Werder Bremen und
Bayer Leverkusen rauskegelte, um ins Finale einzuziehen, jedes Spiel ein einziger
Festtag.) Sondern auch europaweit.

In Frankreich stand Stade Reims im Pokalfinale, der
Tabellensechzehnte der Liga, der gerade in der Relegation ums Überleben kämpft.
Am 1. Juni spielt der schweizerische Drittligist FC Biel-Bienne im Pokalfinale
gegen den FC Basel, auf dem Weg dahin schlug Biel unter anderem die Young Boys
Bern. In den Niederlanden besiegte die graue Maus Go Ahead Eagles aus dem eher
kleinen Deventer im Finale spektakulär den AZ Alkmaar, der Ausgleich zur
Verlängerung fiel in der neunten Minute der Nachspielzeit, es war der erste
Titel der Go Aheads seit 1933.

Derweil schlug der FC Bologna im Finale der Coppa Italia den
großen AC Mailand. Bologna hatte seit 1974 nichts mehr gewonnen. Und in
England? Schlug Crystal Palace das dem normalen Fußball völlig entrückte
Manchester City sensationell mit 1:0, es war der erste Titel der Londoner in
119 Jahren Vereinsgeschichte überhaupt. Die Pokalwettbewerbe sind der eine Ort
im Fußball, an dem wirklich noch möglich ist, was uns alle an ihn bindet: zu
träumen. Dass alles besser wird. Dass man eines Tages auch mal gewinnt. Dass es
passiert. 

Mich verbindet nichts mit Crystal Palace, nichts mit Bologna
oder den Go Ahead Eagles, auch nichts mit Biel-Bienne. Und doch so viel.
Nämlich die Sehnsucht nach einem Fußball, in dem die Clubs weniger weit
voneinander entfernt sind. Ein Fußball, in dem Steaua Bukarest den
Landesmeistercup und der 1. FC Kaiserslautern die Deutsche Meisterschaft holen
kann. Ein Fußball ohne diese weit gespreizte Schere zwischen Arm und Reich.
“Der Pokal ist die letzte Bastion des Fußballs”, schrieb mir ein Freund, als
wir uns über das Pokalfinale freuten. Er meinte: ein Ort, an dem jeder jeden
schlagen kann, so wie es einst ja gedacht war. Schon zuvor hatten wir uns
zahllose Videos zugeschickt, von den Arminia-Fans in Berlin, von Crystal Palace
und Bologna. Menschen, die sich weinend in den Armen liegen, die gar nicht
glauben können, dass ausgerechnet ihr kleiner Verein dann doch mal irgendwann …
ach was, irgendwann, genau in diesem Moment, genau jetzt.

Die Choreografie der Palace-Fans zeigte übrigens einen
jubelnden Vater mit seinen zwei Söhnen, ein Bild, das im Halbfinale des
Ligapokals 2011 entstanden war. Zufällig entstand bei Abpfiff des diesjährigen
Finales ein Video genau dieser beiden Söhne, mittlerweile erwachsen, wie sie
sich jubelnd in den Armen liegen. Ihr Vater war 2017 verstorben, und nun das. Fußball,
du völlig unglaublicher Sport.

Bei Bielefeld hat es letztlich nicht zum Titel gereicht, wahrscheinlich
auch nicht, wenn, wäre, hätte Sarenren-Bazee getroffen. Ich hoffe zumindest
inständig, dass er nicht nachts wach liegt oder in seinen Träumen das Klatschen
der Latte hört. Bielefeld war in den vergangenen zwanzig Jahren übrigens dreimal
im Halbfinale. Wer sagt denn, dass die Arminia demnächst nicht wieder in Berlin
steht, das Motto dann “Zweimal im Leben”, und Sarenren-Bazee doch noch das
verdammte Tor macht?

Im Pokal ist schließlich nichts unmöglich. Und man wird ja wohl
noch träumen dürfen.

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