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Raus aus Deutschland?: “Für viele wäre es der Tag, an dem die AfD an die Regierung kommen würde” | ABC-Z

In ihrem Buch “Rausländer” beschreibt die Journalistin Waslat Hasrat-Nazimi, warum viele Migranten übers Auswandern nachdenken. Zuwanderer seien aber bei Weitem nicht die einzigen, die sich angesichts Rechtsrucks in Deutschland nicht mehr wohlfühlten, sagt die Autorin im Interview.

ntv.de: Ihr Buch beginnt mit einer Erzählung aus Ihrem Leben. Im Alter von fünf Jahren sind Sie mit Ihren Eltern aus Afghanistan nach Deutschland geflüchtet. Sie beschreiben, wie Sie kurz nach Ihrer Ankunft von ihren Mitschülern beschimpft und mit Kieselsteinen beschmissen wurden, weil Sie “Ausländerin” seien. Für welche Wunden sorgen Erlebnisse wie dieses?

Waslat Hasrat-Nazimi: Rassistische Erfahrungen hinterlassen bei Menschen lebenslange Traumata, vor allem, wenn es in der Kindheit passiert. Man erkennt als Kind noch nicht das System dahinter. Menschen werden in einer Gesellschaft groß, in der man Rassismen mit in die Wiege gelegt bekommt. Das passiert auch mir, das passiert allen Menschen. Wir saugen Rassismus mit der Muttermilch auf. Im Buch habe ich nur einige Beispiele von vielen genannt. Erlebnisse wie diese ziehen sich durch mein ganzes Leben. Vor der Flucht nach Deutschland haben mir meine Eltern erzählt, was für ein tolles Land Deutschland sei, dass hier Menschenrechte gelten würden und die Würde des Menschen unantastbar sei. Umso größer war der Schock, nach meiner Ankunft als Kind zu erfahren, dass es hier doch Unterschiede gibt zwischen den Menschen.

Waslat Hasrat-Nazimi berichtet für die Deutsche Welle über Menschenrechte, Frauenrechte und den Friedensprozess in Afghanistan. In ihrem neuen Buch "Rausländer - unsere Koffer sind gepackt" beschreibt sie die zunehmende Angst, Ausgrenzung und Entfremdung, die viele Migranten in Deutschland angesichts des zunehmenden Rechtsrucks erleben.

Waslat Hasrat-Nazimi berichtet für die Deutsche Welle über Menschenrechte, Frauenrechte und den Friedensprozess in Afghanistan. In ihrem neuen Buch “Rausländer – unsere Koffer sind gepackt” beschreibt sie die zunehmende Angst, Ausgrenzung und Entfremdung, die viele Migranten in Deutschland angesichts des zunehmenden Rechtsrucks erleben.

(Foto: Julia Sellmann Photography)

Sie schreiben, eigentlich wollten Sie persönliche Erfahrungen nicht in Ihr Buch aufnehmen, um nicht “Teil der Opferolympiade” zu werden. Was meinen Sie damit?

Der Begriff Opferolympiade drückt aus, dass marginalisierte Menschen angeblich um die Aufmerksamkeit der Mehrheitsgesellschaft buhlen, um zu beweisen, dass sie die Armen sind oder die, denen mehr Empathie zusteht. Das ist weder produktiv noch konstruktiv. Deswegen wollte ich durch die persönlichen Beschreibungen nicht dazu beitragen. Wenn man über Rassismus spricht, wird man oft gefragt: Ja, wie hast du das denn erlebt? Und wenn man dann darüber berichtet, wird man schnell negiert und herabgesetzt und herabgewürdigt – als wäre das etwas, das nur einzelnen Menschen passieren könnte. Dabei ist Rassismus – genauso wie Sexismus – ein strukturelles Problem, unter dem alle Menschen leiden, sowohl Betroffene als auch Nichtbetroffene. Das belegt auch die Forschung zu diesen Themen.

Denken Sie, die Rassismusforschung wird zu wenig ernst genommen?

Ja. Das Problem ist nicht rein subjektiv – es ist objektiv da. Es gibt unzählige Zahlen, Fakten und empirische Studien, die belegen, dass es in Deutschland Rassismus gibt. Auch ich merke, wie ich durch Rassismen sozialisiert wurde. Ich komme jeden Tag damit in Berührung und muss sie mir abtrainieren. So ist das bei allen anderen Menschen auch. Das Wichtigste ist, selbstreflektiert genug zu sein und das erstmal anzuerkennen. Dann können wir etwas dagegen tun – und für eine gerechtere Gesellschaft sorgen.

In Ihrem Buch schreiben Sie, viele Menschen mit migrantischen Wurzeln erwägen angesichts des Zuspruchs für rechte Positionen, Deutschland zu verlassen. Sind wir daran gescheitert, eine gerechte und offene Gesellschaft aufzubauen?

Wir sind noch nicht völlig daran gescheitert, aber auf dem Weg dorthin. Wir rücken weiter nach rechts und normalisieren Rechtsextremismus. Unter manchen jungen Menschen scheint sich ein regelrechter Trend zu verbreiten, rechts zu sein und Nazisymboliken zu verwenden. Ich finde das ungeheuerlich. Es gibt viele Menschen, die sagen: Ich gehe nicht mehr in den Osten, das ist viel zu gefährlich und ich habe keine Lust auf rechte Gewalt. Wenn wir als Gesellschaft immer mehr Raum verlieren an die Rechten, dann sind wir schon ein Stück weit gescheitert. Das ist ein Armutszeugnis für ein Land wie Deutschland, das sich damit gerühmt hat, seine Geschichte aufgearbeitet zu haben.

Sie beschreiben die Ängste migrantischer Menschen vor dem Tag X, an dem sie keine andere Wahl mehr sehen, als auszuwandern. Welche Beispiele gibt es für Erlebnisse, die zu dem Tag X führen?

Für viele wäre es der Tag, an dem die AfD an die Regierung kommen würde. Das ist nicht so unwahrscheinlich. Vielleicht passiert das bei der nächsten Bundestagswahl, je nachdem, wann die stattfindet. Teilweise ist die AfD die stärkste Kraft in den Umfragen. Das macht vielen Menschen Angst. Die AfD ist eine rechtsextreme Partei, die ein völkisch nationalistisches Verständnis und Menschenbild verbreitet. Sie unterscheidet zwischen Passdeutschen und richtigen, reinen Deutschen.

Was löst das bei migrantischen Menschen aus?

Viele migrantische Menschen sagen sich: Ich möchte mir das nicht antun – ich möchte nicht in einer Gesellschaft leben, die mich irgendwann zwingt, gehen zu müssen. Ich möchte nicht, dass Remigration stattfindet oder die rechte Gewalt so stark ansteigt, dass ich Angst haben muss um mich und meine Kinder. Wenn die AfD in die Regierung kommt, dann sind nicht nur migrantische Menschen bedroht sind, sondern alle Menschen.

Sie werfen etablierten Parteien vor, rechte Positionen teils zu übernehmen und zu normalisieren. Als Beispiele nennen Sie die gemeinsame Abstimmung der Union mit der AfD über einen Antrag zur Migrationspolitik – aber auch Äußerungen von Kanzler Friedrich Merz, der sich über “Sozialtourismus” und migrantische “Paschas” an Schulen beklagte. Warum ist das aus Ihrer Sicht falsch?

Es ist falsch, weil so Rechtsextremismus und Rassismus in die Mitte der Gesellschaft gerückt und salonfähig gemacht wird. Es ist mittlerweile normal, solche problematischen Begriffe zu verwenden oder auch “Messertäter” mit Ausländern gleichzusetzen. Als betroffene Personen merken wir, wie sich die Stimmung im Land gewandelt hat und wie stark rechte Gewalt zunimmt. Man kann kaum vor die Tür gehen, ohne Rassismus zu erfahren, ohne beleidigt zu werden, ohne komisch angeguckt zu werden, ohne angespuckt zu werden. Laut einer Studie des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung erleben 60 Prozent der schwarzen und muslimischen Menschen Rassismus im Alltag.

Und dafür sind aus Ihrer Sicht auch die etablierten Parteien verantwortlich?

Ja, denn diese Parteien hätten sie sich von Anfang an davon abgrenzen sollen, anstatt von der AfD zu kopieren und abzuschreiben. Sie wollten dadurch verloren gegangene Wählerstimmen retten. Das hat nicht funktioniert. Die Menschen sind nicht bei der Union oder bei der SPD geblieben. Stattdessen sind immer mehr zur AfD gegangen, weil sie gedacht haben: Es ist offensichtlich okay, solche Sachen zu sagen – dann kann ich auch das Original wählen.

Sie plädieren in Ihrem Buch für ein AfD-Verbot. Der Verfassungsschutz hat die AfD bereits als rechtsextremistisch eingestuft. Wie bewerten Sie das?

Wir müssen abwarten. Die Klage gegen die Einstufung ist für die AfD ein Riesengewinn gewesen. Sie konnte sich noch mal so darstellen, als hätte sie Recht, als wäre das alles falsch gewesen. Das ist einer der Gründe, warum ich dafür plädiere, der AfD keine Plattform zu geben, weil sie mit ihren Narrativen alles drehen kann. Die Klage war ein Rückschritt, weil der Verfassungsschutz die AfD bis zu einem Urteil nicht mehr offiziell als extremistisch führen wird. Nun kann es Monate bis Jahre dauern, bis das Urteil gefällt wird. Ich finde es wichtig, ein AfD-Verbot vorzubereiten. Der Weg dafür ist geebnet, wenn wir jetzt schon wissen, dass es eine rechtsextreme Partei ist.

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Sie schreiben im Schlusswort, dieses Jahr seien Sie erstmals nicht mehr fröhlich zur Bundestagswahl gegangen. Was muss passieren, damit sich das wieder ändert?

Ich würde wieder fröhlich zur Bundestagswahl gehen, wenn ich das Gefühl hätte, dass es ein Verantwortungsbewusstsein in der Politik gibt. Und dass Menschen wie ich – migrantische Menschen – als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft gesehen werden. Als Afghanin bedrückt mich vor allem, wie stark sich das Bild von Afghanen ins Negative gewandelt hat. Es führt dazu, dass man Menschen, denen man Schutz versprochen hat, weil sie für westlichen Ideale ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben, im Stich lässt, weil man für mehr Abschiebungen plädiert. Wenn ich das Gefühl hätte, dass sich das alles wandelt, wäre ich optimistischer. Aber momentan sehe ich das nicht.

Mit Waslat Hasrat-Nazimi sprach Lea Verstl

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