Kultur

Bücherverbrennung in Brugg: Kampf dem Schund! | ABC-Z

Ein VW-Bus, vollgeklebt mit Plakaten und Flyern, tuckert an einem Samstagabend im Mai 1965 im Schritttempo durch ein Aargauer Städtchen. “Achtung, Achtung! Es ist so weit, das Forum 63, das Jugendhaus aus Brugg, hat dem Schund den Kampf angesagt”, tönt es aus einem Megafon. “Bringen Sie Ihre gesamte Schundliteratur, die Sie zu Hause haben, seien es nun Bravo, Wildwestheftli, Deutsche Illustrierte, pornografische Hefte und so weiter.” Der Bus führt einen langen Umzug an. Auf der Ladefläche eines Lasters spielt eine Jazzband, Pfadfinder marschieren, dahinter ein paar Hundert Jugendliche und Erwachsene. Mit dabei ist auch Hans-Peter Widmer, ein 24 Jahre junger Redaktor des Brugger Tagblatts, der nach diesem Abend einen seiner ersten Texte schreiben wird.

60 Jahre später sitzt der freundliche Kollege in einem Café in Brugg, wo er noch immer fast jeden Tag als Journalist, jetzt für das Lokalblatt Brugger General Anzeiger, unterwegs ist. Bei einem Café Crème erzählt Widmer von der Brandnacht vor 60 Jahren, die schweizweit für Aufsehen sorgte – und ein Anfang hätte werden sollen. Er erzählt vom Initianten, dem “Schundpapst” Hans Keller, einem Gewerbeschullehrer aus Baden, der gegen alle Druckerzeugnisse ankämpfte, welche die Jugend zu verderben drohten: Krimis, Comics, Groschenromane, Bravo oder die Boulevardzeitung Blick. Er erzählt von den Jugendlichen, die im Forum 63 verkehrten und Kellers Ideen umsetzten. “Das waren aktive Leute, aber keine Rabauken und auch keine 68er”, sagt Widmer, “sondern wohlerzogene Menschen aus anständigen Häusern, die etwas Gutes tun wollten – aber vermutlich auch naiv waren.” Er habe die “heitere Aktion” mit Stift und Polaroidkamera durch die Stadt begleitet. Im Geissenschachen, wo normalerweise Pferderennen stattfanden, seien Stände aufgebaut gewesen, an denen der mitgebrachte “Schund” gegen “gute Literatur” eingetauscht werden konnte.

Ex Libris finanzierte Büchergutscheine im Wert von 5.000 Franken. Ein Werbeleiter der Migros, zu der die Buchhandlungskette bis heute gehört, war von Anfang an involviert und spendierte die Würste, die gebrätelt wurden, nachdem die Bücherberge verbrannt worden waren. Das Sponsoring sorgte für Kritik, es wurde beargwöhnt, die Aktivisten seien vom Detailhändler instrumentalisiert worden. Als Redner trat neben dem “Schundpapst” Keller auch der kurz zuvor gewählte sozialdemokratische Bildungsdirektor Arthur Schmid auf. Er beglückwünschte die Jugendlichen zu ihrem Mut und wünschte, dass die Aktion “zu einem Fanal für den Aargau und die Schweiz” werden möge. So stand es am Montag im Artikel von Hans-Peter Widmer.

Die Frage, was Bücher aus Menschen machen, ob etwa Kriminalromane die Jugend in die Illegalität locken oder fiktionale Werke den Sinn für die Wahrheit beeinträchtigen würden, trieb nicht nur die Aargauer um. Bereits 1931 wurde das Schweizerische Jugendschriftenwerk (SJW) gegründet, mit dem Ziel, eine Alternative zu den erfolgreichen Romanheften zu bieten, die es an den Kiosken zu kaufen gab und die im Ruf standen, die Jugend zu verderben. Ein Jahr später erschienen die zwölf ersten SJW-Hefte mit erzieherisch wertvollen Themen. Preis: 20 Rappen.

Im selben Jahr versuchte die Arbeitsgemeinschaft zum Schutz der Jugend gegen Schund und Schmutz, inspiriert von einem deutschen Gesetz, einen entsprechenden Artikel ins Strafgesetzbuch zu schreiben. Sie scheiterte jedoch am erbitterten Widerstand von Kunstschaffenden und der Buchbranche. In den 1950er-Jahren blieben parlamentarische Vorstöße von katholisch-konservativer, aber auch von sozialdemokratischer Seite ebenfalls erfolglos. Doch 1963 richtete der CVP-Bundesrat Philipp Etter eine Stelle ein, die im Auftrag des Staates Listen mit verbotener Literatur erstellte. Die Kantone erhielten damit ein Instrument, um nach problematischer Literatur zu fahnden. Verurteilungen aufgrund der Liste gab es jedoch kaum. Nach und nach habe sich die Meinung durchgesetzt, schreibt der Schweizer Historiker Georg Kreis, dass das Problem nicht mit Verboten, sondern mit positiven Maßnahmen, also mit dem Angebot guter Literatur, angegangen werden müsse.

Obwohl die Bücherverbrennung von 1965 bei ihm “unselige Erinnerungen an den Nationalsozialismus” geweckt habe, sagt Hans-Peter Widmer, habe er die Aktion befürwortet: “Ich fand das jugendliche Engagement gut, aber ich rüffelte in meinem Text die Alten, die sich als die eigentlichen ›Schundkonsumenten‹ versteckten.” Die Stimmung am Bücherfeuer sei friedlich, wie in einem Pfadilager, gewesen und “ohne Ideologie” – die hätten einzelne Medien ins Spiel gebracht.

Das Schweizer Fernsehen ließ die Aktivisten in der Sendung Antenne auflaufen, als es ihnen die Frage stellte, was denn überhaupt “Schund” sei – und die Jungen darauf keine überzeugende Antwort hatten. Die Weltwoche, damals eine linksliberale Wochenzeitung, erinnerte an die Nazi-Bücherverbrennungen und kritisierte die “Brugger Zündeleien” scharf. Die negative Berichterstattung war denn auch der Grund, warum Brugg doch kein Fanal wurde. Jugendverbände, Bildungsorganisationen und das Eidgenössische Departement des Innern hatten bereits eine nationale Bücherverbrennung geplant, die sie nun aber nicht umsetzten. So loderte zwei Monate später, am 1. August, dem schweizerischen Nationalfeiertag, nicht wie geplant in jedem Kanton ein Feuer, in dem das ganze literarische Übel des Landes verbrannt wurde. Das Komitee war zum Schluss gekommen, dass die Öffentlichkeit so etwas nicht goutieren würde.

Da half auch nichts, dass der Brugger Initiant Hans Keller in seiner Rede ausdrücklich betonte: “Hitler verbrannte Geist. Wir verbrennen Schund, Schmutz, Dreck.”

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